1967
– 1985. Ruhelos. Der Zigeuner liegt mir im Blut, sage ich immer. Das kommt
nicht von ungefähr, denn praktisch, seit ich auf der Welt bin, zogen wir durch
ebendiese. Natürlich nicht unbedingt immer mit einem Wohnwagen.
![]() | |
Sommer 1980 am Genfer See |
Wieder
in Deutschland vergrößerte sich die Familie im Laufe der nächsten vier Jahre,
meine anderen Geschwister, eine Schwester, ein Bruder, eine Schwester, kamen im
Abstand von ein bis eineinhalb Jahren zur Welt. Im August 1967 kam ich dann als
die Jüngste der fünf Kinder dazu.
Wir
lebten in einer Vierzimmerwohnung in der „Stadt am Walde“
(Zeven/Niedersachsen), welcher zu der Zeit noch gleich hinterm Haus anfing.
Mein Vater arbeitete bei der Zevener Zeitung als Setzer, meine Mutter hatte
alle Hände voll zu tun mit ihrer Rasselbande. Um ein wenig Extrageld zu verdienen,
las mein Vater Doktorarbeiten Korrektur. Weil es aber in der Wohnung zu laut
war, was bei fünf kleinen Kindern auf beengtem Raum kein Wunder ist, fuhr er
mit dem Auto in den Wald und arbeitete dort. Doch auf Dauer hielt es ihn nicht
in Deutschland.
Im
zarten Alter von eineinhalb wurde ich das erste Mal in ein Flugzeug
verfrachtet, zusammen mit meiner Mutter und vier Geschwistern. Das Ziel war
Mauretanien (Afrika), wo mein Vater auf uns wartete. Er arbeitete hier wieder
in einer Druckerei im Auftrag einer deutschen Entwicklungsgesellschaft. Für uns
Kinder war das alles ein großes Abenteuer, schließlich mussten wir uns nicht um
Papierkram oder die Organisation des Alltags kümmern. Wir hatten ein richtiges
Haus, in dem wir wohnten, aber alles war noch recht primitiv und direkt in der
Medina, also der Altstadt. Die Straße vor dem Haus war nicht geteert, bestand
nur aus sandigen Spurrillen. Kinder, zum Teil in recht zerlumpter Kleidung,
spielten vor den Häusern. Und immer gab es Ziegen, die meckernd im Müll
wühlten.
Wir
besuchten alle die französische Schule, das heißt, ich war in der Vorschule. So
lernte ich, als ich sprechen lernte, zwei Sprachen gleichzeitig.
Natürlich
gab es außer uns noch andere Europäer, die hier arbeiteten, und eine deutsche
Botschaft. Ein kleiner Kreis, aber man hielt zusammen. Ausflüge zum Strand an
den Atlantik waren immer eine kleine Gruppenreise mit mehreren Autos und einem
Haufen Kinder. Was niemanden davon abhielt, häufig einen Ausflug zu
unternehmen. Mit der Wüste auf der einen Seite und der Küste auf der anderen
hatten wir nicht nur gefühlsmäßig die größte Sandkiste der Welt zum Spielen.
Immer wieder gab es auch herausragende Ereignisse, wie zum Beispiel eine totale
Sonnenfinsternis im Jahr 1973.
Natürlich
hatten wir auch hier Ferien beziehungsweise mein Vater Urlaub. Und reiselustig,
wie mein Dad ist, hielt es ihn dann nicht in Nouakchott, der Hauptstadt von
Mauretanien, in der wir wohnten. Wir unternahmen Fahrten nach Dakar im Senegal oder auf die
Kanarischen Inseln. Diese liegen direkt vor der Küste Afrikas und sind somit
ganz nah dran. 1971 bekamen wir den ersten Heimaturlaub, den wir in Zeven und
bei den Omas in Hamburg und auf Sylt verbrachten. Die Rückreise nach
Mauretanien traten wir, sozusagen als Urlaubsbonbon, im VW-Bus an. Zunächst
quer durch Deutschland und Frankreich bis nach Marseille. Hier schifften wir
uns ein, um mit dem Schiff „Ancerville“ nach Dakar überzusetzen. Von dort dann
weiter mit dem Auto bis Nouakchott.
Etwa
Anfang des Jahres 1971 bezogen wir und die anderen Deutschen die neu gebauten
Häuser. Über den Arbeitgeber meines Vaters erhielten wir sogar Möbel aus
Deutschland und hatten es recht komfortabel. Immer noch Sandstraße vor der Tür,
aber ein kleiner überdachter Innenhof und ein für alle gemeinsamer Hinterhof.
Mit uns wohnten dort im Hof alle möglichen Tiere. Unter anderem eine
Riesenschildkröte, Hunde, ein Kamel und unser Wüstenäffchen mit Namen
Hotzenplotz. Diesen Namen des Räubers aus dem Kinderbuch von Otfried Preußler
verdiente er sich, weil er immer aus seinem Käfig abhaute und dann den
Kühlschrank in der Küche plünderte. Zum Leidwesen von uns Kindern mussten wir,
als wir Afrika verließen, unseren kleinen Freund schweren Herzens bei Freunden
zurücklassen.
![]() |
ich bin die 3. von links |
Unstet,
wie wir waren, machten wir immer wieder Ausflüge ins Umland. Unter anderem nach
Hamburg. Ich erinnere mich an ein altes Schwarzweiß-Bild, auf dem alle fünf
Kinder mit dicken Pullis am Elbestrand sitzen. Aber auch Bremerhaven und
natürlich List/Sylt, wo meine Großeltern lebten. Meinen ersten Schnee sah ich
im Winter 1973, da war ich sieben Jahre alt.
Das
Schuljahr in Deutschland beendeten wir Kinder dann aber nicht ganz, denn schon
Anfang 1974 nahm mein Vater ein Angebot an, für ein paar Jahre nach Er-Riyadh,
der Hauptstadt von Saudi-Arabien, zu gehen. Natürlich wollte er am liebsten die
ganze Familie dabei haben. Doch in den frühen 70ern gab es in Riad nur eine
amerikanische Schule und meine Eltern wollten uns Kinder nicht einem
Sprachwechsel aussetzen. So blieben meine älteren Schwestern das erste Jahr in
einem Internat in Deutschland. Wir drei Kleinen wurden später von meiner Mutter
unterrichtet.
Den
Umzug unseres in ein paar Blechkisten verpackten Hab und Guts organisierte die
Firma meines Vaters. So traten wir nur mit unseren Koffern die erste Reise nach
Saudi an. Im Flieger, in der ersten Klasse. Auch gesponsert von der Firma
meines Vaters, weil es so ein langer Flug war. Die Maschine war dann so wenig
besetzt, dass sogar mein großer Stoffaffe einen eigenen Sitzplatz hatte. Diesen
schleppte ich immer mit mir herum. Ich hatte ihn von meinen Eltern zum Trost
über den Verlust des „echten“ Hotzenplotz bekommen.
In
Riadh angekommen wohnten wir zunächst einige Wochen in einem Hotel, bevor wir
dann unser endgültiges Domizil beziehen konnten. Ich sehe das Haus noch vor
mir: Um jedes Haus war, und ist sicher auch heute noch, eine Mauer. Den
Innenhof erreichte man durch ein Tor. Unseres war ein eisernes. Zwei Flügel aus
abblätterndem, ziemlich ausgebleichtem Grün. Und nur im oberen Drittel ein paar
geschwungene Muster. Einmal drinnen befand man sich auf einer mit Platten
ausgelegten Fläche. Diese Platten waren gerillt und hatten ein Muster aus
blassgelben und blassrotbraunen Streifen. An was man sich doch so erinnert. Zur
Linken war eine Rasenfläche, auf der dann später der Pool stand, so ein
Metallteil zum Selberaufbauen. Die waren damals noch eine Sensation. Zur
Rechten eine Stufe, beziehungsweise eine Art Terrasse, die um das ganze Haus
ging. Vorne Stufen, auch auf die Terrasse. Das Haus war relativ geräumig im
Gegensatz zu unserer Wohnung in Zeven. Ein Wohnzimmer, Esszimmer, Küche und
Bad, ein Elternschlafzimmer und zwei Kinderschlafzimmer.
Betreten
haben wir das Haus durch das sogenannte Schulzimmer. Wie erwähnt gab es keine
Schule und so unterrichtete uns meine Mutter mit Unterlagen aus Deutschland.
Später tauschte sie, eine gelernte Sekretärin, mit Frau Meyer, eine richtige
Dorfschullehrerin, die Jobs. Zunächst bestand unsere kleine Schule gerade mal
aus fünf Schülern, aber bald wurden es mehr. Im Januar 1976 wurde dann mit
Hilfe der GTZ und der Firma Holzmann die Deutsche Schule Er-Riaydh gegründet,
die bald auf über 50 Schüler in den verschiedensten Altersgruppen anwuchs und in
der deutsche Lehrer unterrichteten.
Saudi-Arabien
ist ein muslimisches Land und Frauen dürfen weder Auto fahren noch sich
unverschleiert in der Öffentlichkeit zeigen. Auch geschah es oft, dass uns die
Kinder „Nazarin“ hinterherriefen, was so viel wie „Nazarener“ beziehungsweise
Christen bedeutete und als Schimpfwort galt. In vielem bekamen wir zu spüren,
dass wir gerade einmal geduldet waren; so gab es solche Feste wie Ostern oder
Weihnachten höchstens hinter verschlossenen Türen. Ich schätze, meine Eltern
hatten mehr mit diesen Dingen zu kämpfen als wir Kinder. Von uns wurde doch
manches ferngehalten.
Natürlich
gab es auch hier regelmäßigen Heimaturlaub, den wir dann meist in und um Zeven
verbrachten.
Mitte
der 70er Jahre gab es zwar schon Unruhen im Mittleren Osten, aber noch ging es
in diesem Teil der Welt gemäßigt friedlich zu. Und so, immer der Abenteuerlust
folgend, packten meine Eltern nach einem Heimaturlaub 1974 den neu (gebraucht)
gekauften Mercedes voll und machten sich auf die lange Fahrt von Zeven zurück
nach Riyadh. Meine ältesten Schwestern durften nun auch mit, da es ja
inzwischen eine Schule gab. Meine ein Jahr ältere Schwester Karen und ich
blieben bei der Oma in Hamburg, da im Auto nicht genug Platz war. Wir folgten
ein paar Wochen später per Flugzeug.
Um
das Land kennenzulernen, machten wir viele Ausflüge in die Arabische Wüste,
eine Fahrt nach Djiddah und ans Rote Meer. Auch während des Heimaturlaubs 1976
in Deutschland hielt es uns keineswegs in den vier Wänden in Zeven. Fahrten zum
Vogelpark Walsrode, nach Hamburg und List waren immer drin.
Und
auch dieses Mal traten wir die Rückreise nach Saudi im Auto an, einem VW-Bus.
Antje, die Älteste, blieb in Deutschland bei Freunden meiner Mutter, wir
anderen fuhren mit. Quer durch Österreich, das damals noch existierende
Jugoslawien, ein großes Stück durch die Türkei, Syrien (den Libanon mieden wir,
da dort nun schon kriegsähnliche Zustände herrschten), Jordanien bis
Saudi-Arabien, das wir dann auch noch mal in etwa zur Hälfte durchqueren mussten.
Dokumentiert wurde diese Fahrt ausführlich von meiner Mutter, wofür ich heute
noch dankbar bin, denn ich kann mich daran nicht gut erinnern.
Im
Juli 1977 hieß es dann Abschied nehmen von Saudi, der Wüste und natürlich den
Freunden.
Für
eine kurze Zeit wohnten wir wieder in Zeven. Wir hatten ja immer noch die
Wohnung in der Kanalstraße. Aber mit der Arbeit sah es in dieser Gegend eher
schlecht aus. Und immerhin hatte mein Vater eine siebenköpfige Familie zu
ernähren. Auf der Suche nach einem geeigneten Job verschlug es ihn ins
Schwabenland nach Stuttgart. Fast acht Monate pendelte er zwischen Echterdingen
und Zeven, bis er ein geeignetes Haus gefunden hatte. Gar nicht einfach mit
fünf Kindern.
![]() |
Frühjahr '80 - afr. Kontinent |
![]() |
ca. '83 - irgendwo |
Zum
anderen, als 1979 „Cubitus“ zu uns kam. Unsere ausgeprägte Reiselust wurde
deutlich, als wir ganz demokratisch im Familienrat beschlossen, kein Haus, sondern
ein Wohnmobil zu kaufen. Die „Hymerzeiten“ brachen an, in denen wir fast ganz
Europa bis Nordafrika bereisten. Wir sind jede Ferien und oft auch an den
Wochenenden mit dem Wohnmobil unterwegs gewesen. In der Schule brachte mir dies
manchen Neider und nicht immer Sympathie ein.
All
dies mag sich auf den ersten Blick wie ein großes Abenteuer lesen. Aber
dahinter steckte nicht nur Positives. Die Welt zu sehen ist die eine Seite,
aber die Kehrseite der Medaille heißt: ständig umziehen, immer wieder neue Freunde
suchen müssen, nirgendwo wirklich zu Hause und immer irgendwie fremd sein.
(aus
dem Buch „Manchmal muss man einfach weiterlaufen“ von Wiebke B. Beyer)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen