Ein Bild und seine Geschichte ...



Der Seelenwald

Pont-à-Mousson. 25.2.2011. Nachdem ich gestern mit solchen doch eher ernüchternden Gedanken eingeschlafen bin, wache ich an diesem Morgen in nicht allzu guter Stimmung auf. Körperlich geht es mir ganz gut. Ich spüre meine Knie und den Rücken, was aber ganz normal scheint und mich nicht weiter beunruhigt. Doch meine Motivation ist gerade ziemlich am Boden. Ich frage mich, ob ich mich mit dieser Unternehmung komplett übernommen habe? Habe ich gedacht, weil alle denken, ich könne das, kann ich das? Hat mich diese öffentliche Selbstsicherheit zu sehr in der eigenen Gewissheit gewogen? Kann ich es schaffen? Die letzte Frage beantworte ich mir ganz klar mit: Ich weiß, ich kann es schaffen, aber um welchen Preis? Will ich das? Irgendwo habe ich mal den Spruch gelesen: „Es wird dir niemals ein Wunsch gegeben, ohne die Kraft, diesen zu verwirklichen. Es könnte allerdings sein, dass du dich dafür anstrengen musst.“ Daran muss ich jetzt denken und sage mir: Nun gut, für heute gilt, erst mal auf diesen Tag schauen, und dann sehe ich, wie es weitergeht.
Ich bin früh wach und gehe ins Bad zum Zähneputzen. Bemühe mich leise zu sein, da es im Haus noch sehr ruhig ist. Dann beginne ich meine Sachen zu packen und stelle fest, ich bin noch sehr umständlich dabei. Ich schaue mich in dem Zimmer um, das für eine Nacht mein Zuhause gewesen ist, und will eigentlich gar nicht so recht weg. Aber es regnet im Moment nicht, gleichwohl die Vorhersage kälter und nasser ankündigte. Und wieder sage ich mir laut den Spruch vor: „One day at a time“, das hilft, mich etwas zu motivieren.

Nach einem kleinen, aber sehr feinen und stärkenden Frühstück marschiere ich gegen 8 Uhr los. Ich habe mir überlegt an der Mosel entlangzulaufen, da der im Führer beschriebene Weg nach den gestrigen Regenfällen nichts Gutes verheißt. Es ist einigermaßen trocken und nach circa zwei Stunden des Laufens finde ich einen schönen Baumstamm direkt am Fluss, auf dem sitzend ich eine erste Pause einlege und einen Müsliriegel esse. Das leichte Vorankommen beziehungsweise der gute Weg wiegt mich so in Sicherheit, dass ich bei Vandières dann doch den rot-weißen Schildern des „Randonnée Metz-Nancy“ folge. Ein zwar nicht mehr geteerter, aber geschotterter und gut begehbarer Wanderweg mit einem ziemlichen Anstieg führt mich bis über die Dächer des Ortes. Und weiter hinaus über Felder, die um diese Jahreszeit allerdings noch braun und trostlos aussehen.
Wenn man einen Berg hochsteigt, geht es irgendwann auch wieder bergab. Hinter dem Ort Norroy-lès-Pont-à-Mousson bei Kilometer 16 geht es dann mal wieder bergauf in den Priesterwald. Der Name alleine hat ja schon etwas Geheimnisvolles. Zunächst muss ich mich aber erst mal darauf konzentrieren, nicht auszurutschen, denn die Wege werden zusehends matschiger und es ist ziemlich schwierig zu laufen. An einer Gabelung mitten im Wald müsste ich jetzt eigentlich rechts abbiegen, aber die Waldarbeiter haben ein riesiges Matschloch hinterlassen. Ich höre in der Ferne noch ihre schweren Maschinen brummen. Und es gibt keine Möglichkeiten auszuweichen. So beschließe ich auf gut Glück den linken Weg zu nehmen, der laut meinem Kompass richtungsmäßig stimmt. Dieser ist zwar auch matschig, aber keine Waldarbeiter oder größeren Pfützen mittendrin. Doch je weiter ich laufe, desto unsicherer werde ich, ob es so eine gute Idee gewesen ist, nicht den Schildern zu folgen. Der Wald wird immer dichter und ich fange an, überall seltsame Geräusche zu hören. Laufe ich überhaupt noch in die richtige Richtung? Zum zigsten Male hole ich den Kompass heraus, um dies nachzuprüfen. Gut. Doch dann ist der Weg plötzlich zu Ende. Einfach so endet er in einer Art kleinen Lichtung mit einer seltsamen Steinformation, die sich bei näherer Betrachtung als von Menschenhand gemacht entpuppt. Ich überlege, ob die alten Druiden hier wohl noch ihr Unwesen treiben und Wanderer in die Irre führen, damit keiner ihren Geheimnissen auf die Spur kommt. Oder waren es die unruhigen Seelen der Soldaten, die sich in diesem Wald während des Ersten Weltkrieges tagelange Gefechte lieferten?

 Ich schüttle den Kopf und schelte mich ob meiner blühenden Fantasie aus. Denke nach! Da ich seit der Gabelung schon gut eine Stunde gelaufen bin, will ich nicht umkehren. Ich rechne mir aus, dass es zum nächsten Ort auch nicht mehr so weit sein kann, und gehe beherzt weiter geradeaus wieder in den Wald hinein. Ich mühe mich durch das zum Glück lichte Gebüsch und Unterholz. Und dann, tatsächlich schaffe ich es bei ein paar Pferdeställen, die eher Ruine als Haus sind, wieder auf einen Weg zu kommen und mich von hier bis nach Pont-à-Mousson durchzuschlagen.
Bis hierher geht es mit der Moral inzwischen auch ganz gut. Die Ablenkung, sich auf den Weg zu konzentrieren, tut das ihre. Auch körperlich fühle ich mich in Ordnung. Der Rucksack ist ziemlich schwer, aber ich halte es gut aus. Ich stelle auch fest, je näher ich dem Etappenziel komme, desto schwerer scheint er. Somit ist das Gewicht subjektiv und theoretisch beeinflussbar. Natürlich kann es auch schlicht an der Zeitspanne liegen, die ich ihn trage.

Pont-à-Mousson ist eine kleine Stadt an einer Engstelle der Mosel mit relativ großem Industriegebiet. Hat man dieses hinter sich gelassen, gelangt man in der Ortsmitte auf den Place Duroc, der von Arkadenhäusern im Renaissancestil gesäumt ist. In einem dieser Häuser finde ich das Office de Tourisme, das allerdings gerade jetzt geschlossen ist. Doch im Aushang sehe ich einen Stadtplan und eine Hotelliste, die ich erst mal eingehend studiere. Ich habe schon festgestellt, dass mein Führer mit den möglichen Übernachtungsangaben nicht so wirklich up to date ist. Wie ich später feststellte, ist es diese Liste auch nicht.
Ich entscheide mich für das billigste Hotel mit dem wenig einladenden Namen Bagatelle. An der Rezeption erfahre ich dann, dass auch noch ein Zimmer frei ist, allerdings ist es wesentlich teurer, als am Anschlag des Tourismusbüros stand. Ich versuche kurz mit dem etwas arrogant wirkenden jungen Mann zu verhandeln, aber er zuckt nur die Schultern und meint in abfälligem Ton: „Ach, das Tourismusbüro. Die sind immer ein Jahr hinterher.“ Da ich ehrlich keine Lust mehr habe weiterzulaufen oder gar ein anderes Hotel zu suchen, checke ich ein. Und als hätte mein Gehirn nun völlig abgeschaltet, sage ich, ohne großartig nachzudenken, ich nehme das Frühstück, was natürlich die Rechnung noch mal höher werden lässt. Ich sollte mir da morgen früh die Taschen vollstopfen und tue das dann nicht mal, weil ich keine Lust habe so viel zu schleppen.
Nichtsdestotrotz gehe ich später noch mal in die Stadt, um ein paar Besorgungen zu machen. Helmut hat sich per SMS beschwert, dass ich so viel telefoniere, und da ich ja ein deutsches Handy habe, ist das recht teuer. Mein erstes Ziel ist die Post, um mir eine französische Telefonkarte zu besorgen. Mir ist aufgefallen, dass es hier noch relativ viele Telefonzellen gibt. Dann laufe ich noch mal die ganze Strecke raus zum Industriegebiet, weil ich dort einen Intermarché (Supermarkt) gesehen habe. Hier kaufe ich mir einen Fertigsalat, Käse und Brot und einen Nachtischquark fürs Abendessen. Außerdem gönne ich mir eine Flasche Tonicwater.
Wieder im Hotel grüble ich vor mich hin, zweifle mal wieder an mir. Aus fachlicher Sicht wäre dies sicher als eine depressive Verstimmung einzustufen. Ich frage mich, ob ich für diese Art des Reisens überhaupt geeignet bin. Ich mag meinen kleinen Luxus, zum Beispiel in einem sauberen Bett schlafen, ein eigenes Bad. Dann wieder weiß ich, ich bräuchte es nicht. Und dann denke ich, dass ich den Schönheiten in der Natur oder den Städten kaum Beachtung schenke, weil ich so mit mir selbst beschäftigt bin.
Nun, wenigstens passt meine schwarze Kleidung gut zu meiner etwas düsteren Stimmung, die auch zur Folge hat, dass ich nur wenige Fotos mache. Ich habe einfach keine Lust!
Um meine Laune ein wenig aufzuhellen, gehe ich zur Kirche St. Martin. Hier zünde ich mir eine Kerze an, ohne Großartiges dabei zu denken oder zu fühlen. Ich lasse einfach für eine Weile die Stille und Geborgenheit, die solche alten Gebäude ausstrahlen, auf mich wirken.

(aus dem Buch „Manchmal muss man einfach weiterlaufen“ von Wiebke B. Beyer)

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