... oder „Der Weg ist das Ziel“.
Als ich heute morgen aufgestanden bin, war der Tag noch irgendwie, wie jeder andere auch. Ein bisschen kaelter, okay, den ueber Nacht sind die Temperaturen auf den niedrigstend Stand dieses Winters gefallen (um die -3 Grad Celsius), aber ansonsten alles wie immer.
Also aufstehen, Hunde rauslassen und dann mein morgendliches Work-out starten, als mir ploetzlich einfiel: hey, heute ist der 13. Dezember! Und das bedeutet ich habe Geburtstag. Happy Birthday to me! Das bedeutet naemlich ich bin seit stolzen 12 Jahren trocken. Das sind 4383 Tage – eine ganz schoen lange Zeit!
Ja, die Zeit die in der ich getrunken habe (nass war) ist immer noch wesentlich laenger, als die, die ich jetzt schon trocken bin. Aber – und das ist das Tolle - ich hatte in den letzten 12 Jahren ein Vielfaches mehr an Leben, als je zuvor! Es war kein Spaziergang, gewiss nicht, und die Strecke war auch nicht sehr gerade und eben, aber ich habe jeden Meter davon intensiv gelebt.
Wie ich nun heute morgen da so rumturne, sinniere ich vor mich hin, wo ich diesen Pfad eingeschlagen habe. Ich erinnere mich noch an mein erstes Weihnachten ohne Alkohol (ich sage mit Absicht nicht „trocken“, da ich noch weit weg davon war – ich hatte allerdings die Flasche schon zur Seite gestellt).
Ich begab mich am 15. Dezember in die Klinik auf dem Hoechsten (meine grosse Schwester lieferte mich ab) und nachdem ich die ersten paar Stunden mit Untersuchungen und Gespraechen verbracht hatte, bekam ich ein Zimmer zugewiesen. Es war ein 3 oder 4-Bett-Zimmer, ich weiss nicht mehr genau. Die ersten zwei Wochen sind etwas im Nebel – gleichwohl ich jetzt nuechtern war. Doch gerade das machte es nicht einfach – und meine Essstoerungen lagen noch direkt vor mir auf dem Weg. Meine ganze Lebenssituation schien aussichtslos: keine Wohnung, keine Arbeit, kein Geld und keine Gesundtheit!
Ich versuchte in diesen ersten Tagen erstmal koerperlich ‚nuechtern’ zu werden, mich irgendwie dort einzuleben und nicht daran zu denken, das dies nun fuer die naechsten 4 Monate mein Zuhause sein soll. Ich schaffte es, einfach Tag fuer Tag zu nehmen, Stunde fuer Stunde, Minute fuer Minute zu existieren. Dem Drang nicht nachgegeben einfach wegzulaufen ... Viele der Therapeuten waren schon in den Winterferien und so waren die Therapiestunden eingeschraenkt und ich hatte viel Zeit allein. Eingeschraenkt war allerdings auch mein Bewegungsfreiraum, denn die ersten 3 Wochen darf man das Klinikgelaende nicht verlassen. Der kleine Park ums Haus herum und der Raucherpavillion waren die bevorzugten Aufenthaltsorte, obwohl es hier oben (in immerhin ca. 900 m Hoehe schon sehr winterlich, bitterlich kalt war).
Nun ging es also auf Weihnachten zu. Ganz ehrlich, mir war es ueberhaupt nicht danach. Doch die Patientinnen, die schon laenger hier waren bemuehten sich, alles ein wenig festlich zu gestalten. Ueberall stand (natuerlich selbstgebastelter) Weihnachtsschmuck herum und es wurden fleissigst Socken zum verschenken gestrickt. Am Heilig Abend wurde im Speisesaal die Tische besonders sorgfaeltig gedeckt (es gab sogar Tischdecken) und ein mehrgaengiges Menu serviert. Ich sehe die Szene vor meinem geistigen Auge vor mir, aber es ist fast so, als waere das nicht ich, die da sitzt. Wenn ich ueberhaupt viel gedacht habe, dann wohl in die Richtung: und das soll’s jetzt gewesen sein? Fuer den Rest meines Lebens?
Es ging relativ locker zu und die „Ueberwachung“ durch das Personal hielt sich in Grenzen. Es gab auch einen Gottesdienst in der klinikeigenen Kapelle, mit Musik und Andacht usw. Aber gegen 22 Uhr war alles vorbei, da wir dann in unsere Zimmer mussten.
Dann kam Silvester. Auch hier hatten die ‚aelteren’ Patientinen sich alle Muehe gegeben eine kleine Party zu organisieren. Natuerlich ohne Alkohol und Maenner (ausser zwei anwesenden Therapeuten), aber mit Luftschlagen und fetziger Musik zum Tanzen. Mir war nicht nach Tanzen und feiern zumute und so zog ich mich ziemlich bald in mein Zimmer zurueck. Einer Mitpatientin, mit der ich mich ein wenig angefreundet hatte, ging es ebenso. Ich erinnere mich, dass wir auf unserer Zimmerterrasse sassen – warm in Decken gewickelt – und (was eigentlich verboten war) eine Zigarette rauchten. Von hier oben kann man bis zum Bodensee und die Schweiz schauen und da es ein besonders klarer Abend war, leuchteten uns tausende von Sternen, und wir sahen hunderte von Feuerwerke ueberall rund herum. Mir wurde klar, dass ich das erste Mal seit Jahren – Jahrzehnten – nuechtern in ein neues Jahr trat. Und zum ersten Mal spuerte ich es und genoss es sogar ein wenig ...
Am naechsten Tag, den 1.1.99, ging die Sonne wieder ueber einer schneebedeckten Landschaft auf und es hatte sich (noch) nicht wirklich was veraendert. Das sollte auch noch eine ganze lange Weile dauern. Aber ich wusste etwas wuerde passieren, ich hatte ploetzlich – auch das erste Mal seit sehr sehr langer Zeit – Zuversicht, das ich es schaffen koennte. Ich spuerte, dass ich an einem Wendepunkt in meinem Leben angekommen war ...
Heute, 12 Jahre spaeter, bin ich wieder an einem Wendepunkt, denn im naechsten Jahr, erfuelle ich mir (noch) einen meiner grossen Traeume und werde die so genannte ‚Strasse der Sterne’ laufen. Meine ganz persoenliche Pilgerreise und kaum einer, der nicht selbst einen solchen 'nassen' Lebensweg wie ich hinter sich hat, kann sich vorstellen, was das bedeutet.
Louis Pasteur sagte einmal: Ich will das Geheimnis verraten, das mich zum Ziel gefuehrt hat. Meine Staerke liegt einzig und allein in meiner Beharrlichkeit. Nun, bei mir koennte man es auch „dickkoepfig“ nennen ... Aber wie immer man es bezeichnet, darin liegt das Geheimnis: weitergehen, auch wenn es schwierig ist, auch wenn der Weg steil wird, es einen Berg, eine Klippe, zu erklettern gilt. Wenn Steine vor einem auf der Strasse liegen und die Neider einen mit Buhrufen zum Stolpern bringen wollen. Einen Fuss vor den anderen setzen, mal mit Bedacht und Kraft, mal mit Eile und Hoffnung. Dann wieder innehalten, die Karte pruefen, sich pruefen: bin ich noch auf dem richtigen Weg? Auch mal Hilfe annehmen und fragen: geht es da entlang? Pausen zur Erholung einlegen, wieder Energie auftanken ... doch dann aufstehen und weitergehen.
Ich bin noch lange nicht angekommen, das weiss ich und das ist auch gut so. Denn so habe ich noch viel Spannendes und vor allem viel Leben vor mir. Und ganz im Sinne dessen, was in 2011 auf meinem persoenlichen Programm steht, soll auch mein Motto fuer das 13. Jahr Trockenheit sein:
Der Weg ist das Ziel!