Des Pilgers Sinnsuche ...

Ein Bild und seine Geschichte:




Nájera. 16.4.2011. Der Anfang eines Tages sagt nicht immer unbedingt aus, wie dieser dann letztlich wird. Egal, wie wir uns bemühen, ihm die von uns gewünschte Richtung zu geben, können wir nicht sehen, wohin, im wahrsten Sinne des Wortes, der Weg uns führt.


Dieser Samstag fängt relativ gelassen an. Ich stehe gegen zwanzig nach sechs auf und tappe leise in der Dunkelheit zum Gemeinschaftsbadezimmer. Ich staune nicht schlecht, als ich den Mann sehe, der schon am Waschbecken steht. Der nämlich putzt sich die Zähne, was ja nicht so kurios ist, aber er benutzt eine elektrische Zahnbürste! Ein ziemlich monströses Teil und ich schätze, dass dieses mindestens 500 Gramm wiegt! Nun, jeder hat wohl so sein „Stück Luxus“, auf das er/sie auf keinen Fall verzichten kann.

Noch immer den Kopf schüttelnd, brauche ich erst mal einen Kaffee. Das heißt hier Wasser in der Mikrowelle kochen und Nescafé aufgießen. Prompt kommt der Mann aus dem Bad auch. Wie sich herausstellt, ist er Deutscher, seit Pamplona unterwegs und er hat einen Rucksack, den ich auf mindestens 70 Liter Größe schätze. Er redet unaufhörlich, während er seine Waschsachen darin verstaut, aber so früh am Morgen bin ich einfach nicht sehr kommunikativ. Er bietet mir höflich etwas von einem riesigen Schokoladenkuchen an, was ich dankend ablehne, woraufhin er auch das Teil in seinem Rucksack, der nun voll ist, verschwinden lässt. Dann geht er zum Glück, denn so viel Gespräch um diese Uhrzeit ist einfach zu viel für mich. Inzwischen ist es auch fast sieben Uhr und ich überlege, dass ich nun Licht machen und packen könnte. Lina und ich frühstücken aber noch gemütlich, bevor wir loslaufen.
Erst führt der Weg noch einmal quer durch die Stadt und in einen tollen Park. Als wir schon ungefähr eine Stunde unterwegs sind, bleibt Lina plötzlich stehen. „So ein Mist, ich habe vergessen, meine Unterhose und meine Socken von der Leine zu nehmen!“ Diese ist im Hinterhof der Herberge und daher sozusagen „außer Sicht“. O je! Und sie hat am Vortag noch gesagt, dass sie das nicht vergessen dürfe. Wir überlegen kurz, beschließen dann aber dafür nicht umzukehren. Lina meint, dass sie sicher irgendwo ein Paar Socken kaufen kann, und Unterwäsche hat sie genug. Also laufen wir weiter. Ich gehe in Gedanken kurz meinen Rucksack durch, aber ich bin mir sicher, ich habe alles eingepackt.

Mir fällt mal wieder auf, dass die Wege hier am Camino Francés ziemlich gut ausgeschildert sind. Oftmals geteert, gepflastert oder mit Kieselsteinen bestreut oder einfach ziemlich ausgetreten. Aber ich empfinde das nicht als wirklich nachteilig, im Gegenteil. Ich genieße doch die Einfachheit gegenüber dem bisherigen Weg. Und auch den „Kommerz“ am Rande finde ich meist sehr erträglich. Doch heute wird dieses bisher positive Gefühl ein bisschen auf die Probe gestellt, als der Jakobsweg uns ein Stück entlang der Autobahn führt. Nur getrennt durch einen Maschendrahtzaun und einen dünnen Grünstreifen. Das ist doch eher unschön. Allerdings werde ich für meinen Teil dafür entschädigt, als wir ein paar Meter entlang des Zaunes weitergehen. Irgendwann einmal hat ein frommer Pilger angefangen, aus herumliegenden Holzstücken ein Kreuz am Zaun zu befestigen. Ein Zweiter ist der Idee gefolgt, dann ein Dritter, Vierter ... und inzwischen sind es hunderte. Angefangen mit ganz einfachen Kreuzen aus zwei Ästen über Kreationen aus Plastiktüten bis hin zu kunstvoll geflochtenen Kreuzen aus Wäscheleine.
Wir laufen daran entlang, Meter um Meter, und staunen. Die auf der anderen Seite des Zauns liegende Autobahn ist längst vergessen. Ich habe das tiefe, sehr berührende Gefühl, Teil von etwas Besonderem, etwas Großem zu sein. Ich fühle mich mit all den Pilgern verbunden, die hier entlanggelaufen sind. Ergriffen von der Geste, die nicht pathetisch religiös wirkt, sondern einfach direkt aus dem Herzen in ein Bild umgesetzt, lassen wir es uns natürlich auch nicht nehmen, unser Kreuz beizutragen und einen Moment innezuhalten.

So gehen wir optimistisch aufgeladen weiter. Wir kommen ganz gut voran und nach Navarrete. Hier erstehe ich in einem kleinen Laden Brot und Frischkäse für ein späteres Picknick. Wir finden eine offene Tür bei der für einen solch kleinen Ort ziemlich imposanten Kirche, die wir dann auch gleich besichtigen.
Kurz vorher haben wir René wiedergetroffen und er läuft den Rest des Tages mit uns. Als ich mich mit ihm unterhalte, stelle ich fest, ich muss meinen ersten nicht ganz positiven Eindruck doch etwas revidieren. Er hat am Anfang auf mich fast schon unangenehm schnulzig gewirkt. Typ „Weichei“, nicht im negativen Sinn, aber eben jemand, der seine Gefühlswelt auf der Außenhaut trägt. Da ich selber so gar nicht dazu neige, ja nicht mal wirklich dazu fähig bin, reagiere ich auf solche Menschen, vor allem wenn es Männer sind, im ersten Moment immer fast aggressiv, distanziere mich. Doch nun merke ich, dass er ein ganz angenehmer Pilgergefährte ist, und wir drei unterhalten uns angeregt, während wir weiterlaufen.
Zur Mittagspause lassen wir uns in einem Olivenhain nieder. Ich erinnere mich daran, dass ich mal in einem Film über das Leben Jesu gesehen habe, dass dieser mit seinen Jüngern auch in einem solchen gesessen hat. Und nun verstehe ich, warum. Diese Bäume strahlen etwas „Altes“ aus. Sie sind ja relativ klein und „knorpelig“, aber stehen fest und die Frucht, die sie produzieren, ist nicht nur gesund, sondern auch vielseitig. Wir unterhalten uns über die Kraft der Natur und ich erzähle den beiden von der Energie der Bäume, die sie teilen, wenn man ihnen eine Geschichte erzählt. Normalerweise werde ich bei solchen Aussagen ja immer belächelt oder gar abfällig als „tree hugger“ bezeichnet, aber Lina und René wollen es dann schon genau wissen. Ich erkläre, dass Bäume ja immer an der gleichen Stelle stehen und so auch im Prinzip immer das Gleiche sehen. Darum lieben sie Geschichten aus der Welt, die sie sich dann gegenseitig erzählen können, vom Wind weitergetragen. Dafür geben sie einem auch gerne etwas von ihrer stärkenden, erdverbundenen Energie ab. Ein fairer Handel, wie ich finde.

Die Sonne scheint zwar heiß vom strahlend blauen Himmel, aber der Wind ist kalt an diesem Tag und so zieht es uns bald weiter. Vorbei an bizarren Weinstöcken und Feldern pilgern wir entlang des Jakobsweges. Wir passieren eine Wiese, die übersät ist mit kleinen Steinmännchen. Auch diese sind von Pilgern hier im Laufe der Jahrzehnte aufgestellt worden. Und noch sind wir mit den von Pilgern gestalteten Zeichen nicht ganz am Ende (…) – aus dem Buch „Manchmal muss man einfach weiterlaufen“ von Wiebke B. Beyer

Einfach das Leben leben ...

Einfach das Leben leben

Nicht mehr lügen
Nicht mehr suchen
Nicht mehr davonlaufen

Nicht mehr sparen
Und nicht ständig an die Zukunft denken.
Keine schlaflosen Nächte mehr …
Einfach das Leben leben
          Bevor es zu spät ist …..
                  Das Leben einfach leben …..

(Anjel Ferry)

Rast ...

... ankommen, aufatmen ... nach der anspruchsvollen Etappe über die Pyrenäen ...


Es ist dein Leben ...



… das hat mir vor einer ganzen langen Weile mal jemand geschickt. Es tut gut, sich mal wieder daran zu erinnern!


ES IST DEIN LEBEN...!!!

Vergib...
Geniesse...
Sei stark...

LIEBE aus tiefem HERZem...!!!

Umarme...
Weine...
Lache...
Geh in die Natur...
Triff Freunde...
Sei dankbar...
Erkenne...
Lass los..
Freue Dich an kleinen Dingen...
Lass Gefühle zu...
Öffne Deinen Geist...
Träume...
Gehe Deiner Leidenschaft nach...
Halte Durch...

Beginne heute...!!!

Erschaffe etwas...
Gehe Deinen Weg...
Lebe...
Nutze die Gelegenheiten...
Sei stets begeistert...

Finde zu Dir...!!!

Reise...
Glaube an Dich...
Behalte für immer Deine Kindheit...
Sei anders...
Denke nicht zu viel...
Verschenke...
Schmecke...
Sei gut zu anderen...
Teile...
Spüre...
Ändere etwas...

Nutze jede Sekunde Deines Lebens...!!!

Sei Bewusst...
Geh stets voran...
Akzeptiere...
Bewundere...
Lies gute Storys...
Sei menschlich...

Ein Bild und seine Geschichte ...



Der Seelenwald

Pont-à-Mousson. 25.2.2011. Nachdem ich gestern mit solchen doch eher ernüchternden Gedanken eingeschlafen bin, wache ich an diesem Morgen in nicht allzu guter Stimmung auf. Körperlich geht es mir ganz gut. Ich spüre meine Knie und den Rücken, was aber ganz normal scheint und mich nicht weiter beunruhigt. Doch meine Motivation ist gerade ziemlich am Boden. Ich frage mich, ob ich mich mit dieser Unternehmung komplett übernommen habe? Habe ich gedacht, weil alle denken, ich könne das, kann ich das? Hat mich diese öffentliche Selbstsicherheit zu sehr in der eigenen Gewissheit gewogen? Kann ich es schaffen? Die letzte Frage beantworte ich mir ganz klar mit: Ich weiß, ich kann es schaffen, aber um welchen Preis? Will ich das? Irgendwo habe ich mal den Spruch gelesen: „Es wird dir niemals ein Wunsch gegeben, ohne die Kraft, diesen zu verwirklichen. Es könnte allerdings sein, dass du dich dafür anstrengen musst.“ Daran muss ich jetzt denken und sage mir: Nun gut, für heute gilt, erst mal auf diesen Tag schauen, und dann sehe ich, wie es weitergeht.
Ich bin früh wach und gehe ins Bad zum Zähneputzen. Bemühe mich leise zu sein, da es im Haus noch sehr ruhig ist. Dann beginne ich meine Sachen zu packen und stelle fest, ich bin noch sehr umständlich dabei. Ich schaue mich in dem Zimmer um, das für eine Nacht mein Zuhause gewesen ist, und will eigentlich gar nicht so recht weg. Aber es regnet im Moment nicht, gleichwohl die Vorhersage kälter und nasser ankündigte. Und wieder sage ich mir laut den Spruch vor: „One day at a time“, das hilft, mich etwas zu motivieren.

Nach einem kleinen, aber sehr feinen und stärkenden Frühstück marschiere ich gegen 8 Uhr los. Ich habe mir überlegt an der Mosel entlangzulaufen, da der im Führer beschriebene Weg nach den gestrigen Regenfällen nichts Gutes verheißt. Es ist einigermaßen trocken und nach circa zwei Stunden des Laufens finde ich einen schönen Baumstamm direkt am Fluss, auf dem sitzend ich eine erste Pause einlege und einen Müsliriegel esse. Das leichte Vorankommen beziehungsweise der gute Weg wiegt mich so in Sicherheit, dass ich bei Vandières dann doch den rot-weißen Schildern des „Randonnée Metz-Nancy“ folge. Ein zwar nicht mehr geteerter, aber geschotterter und gut begehbarer Wanderweg mit einem ziemlichen Anstieg führt mich bis über die Dächer des Ortes. Und weiter hinaus über Felder, die um diese Jahreszeit allerdings noch braun und trostlos aussehen.
Wenn man einen Berg hochsteigt, geht es irgendwann auch wieder bergab. Hinter dem Ort Norroy-lès-Pont-à-Mousson bei Kilometer 16 geht es dann mal wieder bergauf in den Priesterwald. Der Name alleine hat ja schon etwas Geheimnisvolles. Zunächst muss ich mich aber erst mal darauf konzentrieren, nicht auszurutschen, denn die Wege werden zusehends matschiger und es ist ziemlich schwierig zu laufen. An einer Gabelung mitten im Wald müsste ich jetzt eigentlich rechts abbiegen, aber die Waldarbeiter haben ein riesiges Matschloch hinterlassen. Ich höre in der Ferne noch ihre schweren Maschinen brummen. Und es gibt keine Möglichkeiten auszuweichen. So beschließe ich auf gut Glück den linken Weg zu nehmen, der laut meinem Kompass richtungsmäßig stimmt. Dieser ist zwar auch matschig, aber keine Waldarbeiter oder größeren Pfützen mittendrin. Doch je weiter ich laufe, desto unsicherer werde ich, ob es so eine gute Idee gewesen ist, nicht den Schildern zu folgen. Der Wald wird immer dichter und ich fange an, überall seltsame Geräusche zu hören. Laufe ich überhaupt noch in die richtige Richtung? Zum zigsten Male hole ich den Kompass heraus, um dies nachzuprüfen. Gut. Doch dann ist der Weg plötzlich zu Ende. Einfach so endet er in einer Art kleinen Lichtung mit einer seltsamen Steinformation, die sich bei näherer Betrachtung als von Menschenhand gemacht entpuppt. Ich überlege, ob die alten Druiden hier wohl noch ihr Unwesen treiben und Wanderer in die Irre führen, damit keiner ihren Geheimnissen auf die Spur kommt. Oder waren es die unruhigen Seelen der Soldaten, die sich in diesem Wald während des Ersten Weltkrieges tagelange Gefechte lieferten?

 Ich schüttle den Kopf und schelte mich ob meiner blühenden Fantasie aus. Denke nach! Da ich seit der Gabelung schon gut eine Stunde gelaufen bin, will ich nicht umkehren. Ich rechne mir aus, dass es zum nächsten Ort auch nicht mehr so weit sein kann, und gehe beherzt weiter geradeaus wieder in den Wald hinein. Ich mühe mich durch das zum Glück lichte Gebüsch und Unterholz. Und dann, tatsächlich schaffe ich es bei ein paar Pferdeställen, die eher Ruine als Haus sind, wieder auf einen Weg zu kommen und mich von hier bis nach Pont-à-Mousson durchzuschlagen.
Bis hierher geht es mit der Moral inzwischen auch ganz gut. Die Ablenkung, sich auf den Weg zu konzentrieren, tut das ihre. Auch körperlich fühle ich mich in Ordnung. Der Rucksack ist ziemlich schwer, aber ich halte es gut aus. Ich stelle auch fest, je näher ich dem Etappenziel komme, desto schwerer scheint er. Somit ist das Gewicht subjektiv und theoretisch beeinflussbar. Natürlich kann es auch schlicht an der Zeitspanne liegen, die ich ihn trage.

Pont-à-Mousson ist eine kleine Stadt an einer Engstelle der Mosel mit relativ großem Industriegebiet. Hat man dieses hinter sich gelassen, gelangt man in der Ortsmitte auf den Place Duroc, der von Arkadenhäusern im Renaissancestil gesäumt ist. In einem dieser Häuser finde ich das Office de Tourisme, das allerdings gerade jetzt geschlossen ist. Doch im Aushang sehe ich einen Stadtplan und eine Hotelliste, die ich erst mal eingehend studiere. Ich habe schon festgestellt, dass mein Führer mit den möglichen Übernachtungsangaben nicht so wirklich up to date ist. Wie ich später feststellte, ist es diese Liste auch nicht.
Ich entscheide mich für das billigste Hotel mit dem wenig einladenden Namen Bagatelle. An der Rezeption erfahre ich dann, dass auch noch ein Zimmer frei ist, allerdings ist es wesentlich teurer, als am Anschlag des Tourismusbüros stand. Ich versuche kurz mit dem etwas arrogant wirkenden jungen Mann zu verhandeln, aber er zuckt nur die Schultern und meint in abfälligem Ton: „Ach, das Tourismusbüro. Die sind immer ein Jahr hinterher.“ Da ich ehrlich keine Lust mehr habe weiterzulaufen oder gar ein anderes Hotel zu suchen, checke ich ein. Und als hätte mein Gehirn nun völlig abgeschaltet, sage ich, ohne großartig nachzudenken, ich nehme das Frühstück, was natürlich die Rechnung noch mal höher werden lässt. Ich sollte mir da morgen früh die Taschen vollstopfen und tue das dann nicht mal, weil ich keine Lust habe so viel zu schleppen.
Nichtsdestotrotz gehe ich später noch mal in die Stadt, um ein paar Besorgungen zu machen. Helmut hat sich per SMS beschwert, dass ich so viel telefoniere, und da ich ja ein deutsches Handy habe, ist das recht teuer. Mein erstes Ziel ist die Post, um mir eine französische Telefonkarte zu besorgen. Mir ist aufgefallen, dass es hier noch relativ viele Telefonzellen gibt. Dann laufe ich noch mal die ganze Strecke raus zum Industriegebiet, weil ich dort einen Intermarché (Supermarkt) gesehen habe. Hier kaufe ich mir einen Fertigsalat, Käse und Brot und einen Nachtischquark fürs Abendessen. Außerdem gönne ich mir eine Flasche Tonicwater.
Wieder im Hotel grüble ich vor mich hin, zweifle mal wieder an mir. Aus fachlicher Sicht wäre dies sicher als eine depressive Verstimmung einzustufen. Ich frage mich, ob ich für diese Art des Reisens überhaupt geeignet bin. Ich mag meinen kleinen Luxus, zum Beispiel in einem sauberen Bett schlafen, ein eigenes Bad. Dann wieder weiß ich, ich bräuchte es nicht. Und dann denke ich, dass ich den Schönheiten in der Natur oder den Städten kaum Beachtung schenke, weil ich so mit mir selbst beschäftigt bin.
Nun, wenigstens passt meine schwarze Kleidung gut zu meiner etwas düsteren Stimmung, die auch zur Folge hat, dass ich nur wenige Fotos mache. Ich habe einfach keine Lust!
Um meine Laune ein wenig aufzuhellen, gehe ich zur Kirche St. Martin. Hier zünde ich mir eine Kerze an, ohne Großartiges dabei zu denken oder zu fühlen. Ich lasse einfach für eine Weile die Stille und Geborgenheit, die solche alten Gebäude ausstrahlen, auf mich wirken.

(aus dem Buch „Manchmal muss man einfach weiterlaufen“ von Wiebke B. Beyer)

Reise = Sehnsucht oder Erfüllung?


»Es scheint, dass das Reisen für mich eigentlich die zuträglichste Lebensart ist.« (August Graf von Platen Hallermund)

... und tschüß!
Der Blog Jakobsweg-Küstenweg wird ein Jahr alt und feiert dies mit einer Einladung zu einer Bloggerparty (http://jakobsweg-kuestenweg.com/2015/05/26/reisegeschichten-blog-party). Bloggerparty? Was ist das denn? Herr Google weiß Antwort. Einen Blogbeitrag schreiben, das geht. Und als ich dann noch die Frage lese: „Welche Reisebekanntschaft oder welcher Reisende (ob populär, fiktiv oder persönlich bekannt) hat dich am meisten geprägt?“ kann ich nicht widerstehen mir hierzu ein paar Gedanken zu machen, zumal Reisen, eines meiner Lieblingsthemen ist …

Als ich dann aber loslegen will und mir die Frage stelle, komme ich erstmal ins Stocken. Sicher, mir fallen ein paar Menschen ein, deren Reiseberichte ich mit Begeisterung gelesen habe (fiktiv oder real), die mich beeindruckten. Aber beeinflussten sie mich auch? 
Sommer '82 auf Korfu
Und mir fallen natürlich auch die Menschen ein, die ich auf meinen ganz eigenen Reisen getroffen habe (zumindest ein paar von Ihnen). Ich bin ja der Meinung, dass jede Begegnung einen Einfluss auf mein Leben hat, mal mehr, mal weniger. In irgendeiner Form halten sie mir einen Spiegel vor, machen mich aufmerksam auf etwas oder weisen mir den Weg. Manchmal ist es auch nur ein aufmunterndes Wort – das meist dann, wenn ich es gerade am Meisten brauche.

»Es gibt Menschen, die begleiten einen ein Stück des Weges, vergehende gemeinsame Tage bleiben dauerhaft in Erinnerung. Es gibt jene, mit denen läuft man ein paar Kilometer, unterhält sich, isst sein Picknick zusammen und trennt sich an der nächsten Weggabelung auf immer. Es gibt Menschen, die gehen den gleichen Weg wie man selbst, mal vor mir, mal hinter mir. Und es gibt die Menschen, die zwar eine andere Route gewählt haben, aber einem immer wieder begegnen. Doch ganz egal, wer welcher Kategorie angehört, eines habe ich hier auf dem Jakobsweg gelernt, jeder muss letztlich seinen eigenen Weg gehen, um herauszufinden, warum er oder sie sich aufmachte, herauszufinden, wer man ist.« (aus ‚Manchmal muss man einfachweiterlaufen‘ von Wiebke Beyer)

Die Begegnungen sind immer wertvoll und machen für mich somit ein Teil jeder Reise aus.

Doch hat einer dieser Reisenden mich geprägt? Imponiert haben mir viele – jeder auf seine Art. Wohl am ehesten die, die wie ich, es geschafft haben, auf ihrer Lebensreise einen guten Weg zu finden.

mein Dad, ca. 1983
Und dann denke ich an meinen Vater. Ein unruhiger Geist. Denn er, wenn ich die alten Geschichten höre und vergilbte Fotos ansehe, schon von seinem Vater geerbt hat. Ich habe meinen Opa leider nie kennengelernt, aber wir waren uns wohl ähnlich in unserer Leidenschaft für das geschriebene Wort und eben das Reisen.
Ich bin die jüngste von fünf Kindern und hatte mit Erreichen der Volljährigkeit wahrscheinlich schon mehr von der Welt gesehen, als die meisten Menschen in einem ganzen Leben. Egal wohin es meinen Vater auch zog, er hat uns Kinder auf viele, viele Reisen mitgenommen. Lang, kurz, weit, nah, schnell, langsam, mal abenteuerlicher, mal weniger. (ausführlicher schreibe ich HIER davon).

Mich hat diese Art zu leben mit Sicherheit beeinflusst, nicht nur wenn es um das Reisen geht.

Marokko, 1982
Stolz gemacht hat mich manch eine meiner eigenen Reisen – beeindruckt, dass ich sie bewältigt habe.
Pauschaler Strandurlaub war nie mein Ding, gleichwohl ich auch das eine oder andere Mal mit der Touristenmasse am Strand gelegen habe. Doch meist bin ich eher individuell gereist. Und einige dieser Reisen hatten es ganz schön in sich …

Die Unruhe
ist mal wieder zu Gast
Das Fernweh
verlängert seinen Besuch
Die Wohnung
ist mal wieder zu klein
Das Auto
mal wieder nicht schnell genug

Der Zigeuner in mir
Sommer 81 - irgendwo
baut seine Zelte ab
Die Welt da draußen
viel zu weit entfernt
Die Menschen um mich
engen mich mal wieder ein
und aus der Sicherheit
mal wieder nichts gelernt … (wb)

Geprägt haben mich zwei meiner eigenen größten Reisen.

Die eine war der lange Weg aus der Alkoholsucht, dem absoluten nichts mehr haben, nichts mehr sein - in ein Leben, das wieder wertvoll ist, lebenswert.

Die zweite war mein Camino. Im Jahr 2011 hatte ich die Möglichkeit, die Strecke von Trier nach Santiago – gut 2300 km – am Stück zu laufen. Alleine. Und weil es eben nur so machbar war, bin ich im Februar losgelaufen, was im Nachhinein ein ganz besonderes Erleben war. Durch verschneite Landschaft langsam nach Süden in den Frühling pilgern. Drei Monate war ich unterwegs. Durch viele Hochs und Tiefs, leichten und schweren Herzens. Mit wertvollen Begegnungen und Erkenntnissen. Vierundzwanzig Stunden am Tag mit sich selbst sein. Die Welt zu Fuß entdecken, Langsamkeit erfahren. Aushalten können, Stärke in mir entdecken, von der ich nicht wirklich wusste, dass ich sie habe.
Heute, vier Jahre nach meiner Pilgerreise, ist in meinem Leben fast nichts mehr, wie es war. Wobei das eine neue Geschichte ist. Aber die Leistung, die ich erbracht habe, macht mich immer noch stolz und hat mir die Kraft gegeben, Dinge zu verändern, die schon lange nicht mehr gut waren. Ich habe den Mut gefunden, noch mal ganz von vorne anzufangen. Ich habe das Gefühl, ich bin auf die Sonnenseite der Straße gewechselt. Auch wenn nicht jeder Tag nur gut ist. Doch wenn ich mal denke, es geht nicht weiter, und ich im Leben in unwegsames Gelände komme, dann rufe ich mir meine Pilgerreise ins Gedächtnis und sage mir: Manchmal muss man einfach weiterlaufen ...

Wildcamping in Portugal (Sommer '80)
Doch zurück zum Reisen … Ich komme an den Punkt, an dem ich mir die Frage stelle: Was bedeutet Reisen an sich für mich?

Abenteuer? Per Definition ist das ein außergewöhnliches Erlebnis oder ein riskantes Unternehmen. Nun auf das Reisen trifft wohl beides zu – zumindest wenn ich die meinen anschaue. Für mich geht Abenteuer mit dem Wort ‚Freiheit‘ Hand in Hand. Das macht es so reizvoll. Sich selbst und das Leben in sich spüren in einer Weise, die nie langweilig wird.

Winter in Frankreich, 1981
Manchmal habe ich den Eindruck, ich war mein ganzes bisheriges Leben

irgendwie immer unterwegs. Auf kurzen und langen Strecken, im In- und Ausland; alleine oder auch nicht, zu Fuß mit dem Auto oder Flugzeug oder irgendwie anders. Mal nur wenige Tage, mal Jahre. Unterwegs sein – ein Teil von mir … Noch heute packe ich den Rucksack, ziehe die Wanderschuhe an und laufe vor der Haustür los. Langsam, bedächtig, Schritt für Schritt.

Ich höre nachts die Lokomotiven pfeifen, sehnsüchtig schreit die Ferne, und ich drehe mich im Bett herum und denke: "Reisen..."

… es scheint mir immer, dass Kurt Tucholsky mir mitten ins Herz geschaut hat, als er diesen Satz schrieb und all meine Sehnsucht hinein packte. … Reisen … Es konnte nie weit genug weg sein, nie schnell genug fort. Mit jedem Flugzeug, dass ich am Himmel vorüberfliegen sah, wuchs die Sehnsucht.

Krebse essen, irgendwo im Süden ('81)
Reisen … nicht immer konnte ich das physische sofort in die Tat umsetzen und so ‚reiste‘ ich dann in anderer Form der Sehnsucht hinterher. Träume vom Reisen in die Zukunft – ich liebe Science Fiction. Reisen in die Vergangenheit – mein Bücherregal steht voll mit historischen Romanen. In ein Buch vertieft, reist eben die Seele und das Herz, weniger der Körper.

Die Flucht in die Sucht war wohl meine beschwerlichste Reise.

Irgendwie ging es immer nur darum, davon zu kommen, raus aus meinem Alltag. Mich nicht mit dem beschäftigen müssen, was vor meiner Nase oder gar in mir stattfindet. Weg sein. Einer Sehnsucht folgen, die mir keine Ruhe lässt. Nicht stillstehen wollen …

Spanien, Winter '81
Und heute? Ist die Sehnsucht weg? Nein, die Unruhe lebt noch in mir. Ist ein Teil von mir, den ich akzeptiert habe. Aber sie und ich haben uns kennengelernt und leben heute im Einklang miteinander. Wenn sie sich meldet und ich kann, höre ich ihren Ruf und ziehe los. Vielleicht nicht mehr ganz so impulsiv, aber ich bin immer noch gleich dabei, wenn es darum geht spontan ein paar Tage weg zu fahren. Und es ist auch kein Fernweh, im Sinne von weit weg, mehr, sondern eher ein ‚Unterwegs sein‘ … das Reisen ist und bleibt die Sehnsucht in mir, von der ich bis heute nicht wirklich weiß wonach oder wohin. Erfüllung findet sie hin und wieder, z.B. wenn ich an einem Strand stehe und auf die unendlich scheinende Weite des Meeres schaue. Oder auf einem Berggipfel, mit grünen Tälern unter mir und dem Gefühl mir sind keinerlei Grenzen gesetzt …
Sonnenuntergang am Atlantik
Max Frisch sagt:: »In der Welt zu Hause zu sein und doch nirgendwo so, dass er es als seine Bleibe für die Ewigkeit ansieht.«

So ist letztlich mein eigener, unruhiger Geist der größte Beeinflusser. Und dann eben doch mein Vater, dessen Blut in meinen Adern fließt. Ich bin dankbar dafür … und freue mich schon auf das nächste ‚Unterwegs sein‘… Reisen


PS: Alle Fotos in diesem Post stammen von Anfang der 80er-Jahren, als wir die Welt - bzw. kleine Teile davon - mit unserem Wohnmobil ‚Cubitus‘ eroberten …