Des Pilgers Sinnsuche ...

Ein Bild und seine Geschichte:




Nájera. 16.4.2011. Der Anfang eines Tages sagt nicht immer unbedingt aus, wie dieser dann letztlich wird. Egal, wie wir uns bemühen, ihm die von uns gewünschte Richtung zu geben, können wir nicht sehen, wohin, im wahrsten Sinne des Wortes, der Weg uns führt.


Dieser Samstag fängt relativ gelassen an. Ich stehe gegen zwanzig nach sechs auf und tappe leise in der Dunkelheit zum Gemeinschaftsbadezimmer. Ich staune nicht schlecht, als ich den Mann sehe, der schon am Waschbecken steht. Der nämlich putzt sich die Zähne, was ja nicht so kurios ist, aber er benutzt eine elektrische Zahnbürste! Ein ziemlich monströses Teil und ich schätze, dass dieses mindestens 500 Gramm wiegt! Nun, jeder hat wohl so sein „Stück Luxus“, auf das er/sie auf keinen Fall verzichten kann.

Noch immer den Kopf schüttelnd, brauche ich erst mal einen Kaffee. Das heißt hier Wasser in der Mikrowelle kochen und Nescafé aufgießen. Prompt kommt der Mann aus dem Bad auch. Wie sich herausstellt, ist er Deutscher, seit Pamplona unterwegs und er hat einen Rucksack, den ich auf mindestens 70 Liter Größe schätze. Er redet unaufhörlich, während er seine Waschsachen darin verstaut, aber so früh am Morgen bin ich einfach nicht sehr kommunikativ. Er bietet mir höflich etwas von einem riesigen Schokoladenkuchen an, was ich dankend ablehne, woraufhin er auch das Teil in seinem Rucksack, der nun voll ist, verschwinden lässt. Dann geht er zum Glück, denn so viel Gespräch um diese Uhrzeit ist einfach zu viel für mich. Inzwischen ist es auch fast sieben Uhr und ich überlege, dass ich nun Licht machen und packen könnte. Lina und ich frühstücken aber noch gemütlich, bevor wir loslaufen.
Erst führt der Weg noch einmal quer durch die Stadt und in einen tollen Park. Als wir schon ungefähr eine Stunde unterwegs sind, bleibt Lina plötzlich stehen. „So ein Mist, ich habe vergessen, meine Unterhose und meine Socken von der Leine zu nehmen!“ Diese ist im Hinterhof der Herberge und daher sozusagen „außer Sicht“. O je! Und sie hat am Vortag noch gesagt, dass sie das nicht vergessen dürfe. Wir überlegen kurz, beschließen dann aber dafür nicht umzukehren. Lina meint, dass sie sicher irgendwo ein Paar Socken kaufen kann, und Unterwäsche hat sie genug. Also laufen wir weiter. Ich gehe in Gedanken kurz meinen Rucksack durch, aber ich bin mir sicher, ich habe alles eingepackt.

Mir fällt mal wieder auf, dass die Wege hier am Camino Francés ziemlich gut ausgeschildert sind. Oftmals geteert, gepflastert oder mit Kieselsteinen bestreut oder einfach ziemlich ausgetreten. Aber ich empfinde das nicht als wirklich nachteilig, im Gegenteil. Ich genieße doch die Einfachheit gegenüber dem bisherigen Weg. Und auch den „Kommerz“ am Rande finde ich meist sehr erträglich. Doch heute wird dieses bisher positive Gefühl ein bisschen auf die Probe gestellt, als der Jakobsweg uns ein Stück entlang der Autobahn führt. Nur getrennt durch einen Maschendrahtzaun und einen dünnen Grünstreifen. Das ist doch eher unschön. Allerdings werde ich für meinen Teil dafür entschädigt, als wir ein paar Meter entlang des Zaunes weitergehen. Irgendwann einmal hat ein frommer Pilger angefangen, aus herumliegenden Holzstücken ein Kreuz am Zaun zu befestigen. Ein Zweiter ist der Idee gefolgt, dann ein Dritter, Vierter ... und inzwischen sind es hunderte. Angefangen mit ganz einfachen Kreuzen aus zwei Ästen über Kreationen aus Plastiktüten bis hin zu kunstvoll geflochtenen Kreuzen aus Wäscheleine.
Wir laufen daran entlang, Meter um Meter, und staunen. Die auf der anderen Seite des Zauns liegende Autobahn ist längst vergessen. Ich habe das tiefe, sehr berührende Gefühl, Teil von etwas Besonderem, etwas Großem zu sein. Ich fühle mich mit all den Pilgern verbunden, die hier entlanggelaufen sind. Ergriffen von der Geste, die nicht pathetisch religiös wirkt, sondern einfach direkt aus dem Herzen in ein Bild umgesetzt, lassen wir es uns natürlich auch nicht nehmen, unser Kreuz beizutragen und einen Moment innezuhalten.

So gehen wir optimistisch aufgeladen weiter. Wir kommen ganz gut voran und nach Navarrete. Hier erstehe ich in einem kleinen Laden Brot und Frischkäse für ein späteres Picknick. Wir finden eine offene Tür bei der für einen solch kleinen Ort ziemlich imposanten Kirche, die wir dann auch gleich besichtigen.
Kurz vorher haben wir René wiedergetroffen und er läuft den Rest des Tages mit uns. Als ich mich mit ihm unterhalte, stelle ich fest, ich muss meinen ersten nicht ganz positiven Eindruck doch etwas revidieren. Er hat am Anfang auf mich fast schon unangenehm schnulzig gewirkt. Typ „Weichei“, nicht im negativen Sinn, aber eben jemand, der seine Gefühlswelt auf der Außenhaut trägt. Da ich selber so gar nicht dazu neige, ja nicht mal wirklich dazu fähig bin, reagiere ich auf solche Menschen, vor allem wenn es Männer sind, im ersten Moment immer fast aggressiv, distanziere mich. Doch nun merke ich, dass er ein ganz angenehmer Pilgergefährte ist, und wir drei unterhalten uns angeregt, während wir weiterlaufen.
Zur Mittagspause lassen wir uns in einem Olivenhain nieder. Ich erinnere mich daran, dass ich mal in einem Film über das Leben Jesu gesehen habe, dass dieser mit seinen Jüngern auch in einem solchen gesessen hat. Und nun verstehe ich, warum. Diese Bäume strahlen etwas „Altes“ aus. Sie sind ja relativ klein und „knorpelig“, aber stehen fest und die Frucht, die sie produzieren, ist nicht nur gesund, sondern auch vielseitig. Wir unterhalten uns über die Kraft der Natur und ich erzähle den beiden von der Energie der Bäume, die sie teilen, wenn man ihnen eine Geschichte erzählt. Normalerweise werde ich bei solchen Aussagen ja immer belächelt oder gar abfällig als „tree hugger“ bezeichnet, aber Lina und René wollen es dann schon genau wissen. Ich erkläre, dass Bäume ja immer an der gleichen Stelle stehen und so auch im Prinzip immer das Gleiche sehen. Darum lieben sie Geschichten aus der Welt, die sie sich dann gegenseitig erzählen können, vom Wind weitergetragen. Dafür geben sie einem auch gerne etwas von ihrer stärkenden, erdverbundenen Energie ab. Ein fairer Handel, wie ich finde.

Die Sonne scheint zwar heiß vom strahlend blauen Himmel, aber der Wind ist kalt an diesem Tag und so zieht es uns bald weiter. Vorbei an bizarren Weinstöcken und Feldern pilgern wir entlang des Jakobsweges. Wir passieren eine Wiese, die übersät ist mit kleinen Steinmännchen. Auch diese sind von Pilgern hier im Laufe der Jahrzehnte aufgestellt worden. Und noch sind wir mit den von Pilgern gestalteten Zeichen nicht ganz am Ende (…) – aus dem Buch „Manchmal muss man einfach weiterlaufen“ von Wiebke B. Beyer

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