Wo sind die Schilder??



Keiner weiß mit Sicherheit, wohin seine Lebensstraße ihn oder sie führt. Doch oft zeichnen sich unsere Lebenswege schon ab, lange bevor wir sie gehen. Gerade dann, wenn wir in naher Zukunft einen Kreuzung vor uns haben. Irgendwann tauchen die ersten Zeichen auf, wir übersehen sie geflissentlich. Erst unbewusst, doch je näher wir der Weggabelung kommen, die eine Veränderung herbeiführen kann (und eine Entscheidung von uns verlangen wird – rechts, links, geradeaus, zurück) schauen wir ganz bewusst in die andere Richtung. Wir erahnen die bevorstehenden Mühen und verlangsamen den Schritt. Manche ignorieren komplett die Tatsache, dass einen Lebenskreuzung vor ihnen liegt. Andere wiederum machen sich schon lange vorher Gedanken welche der Straßen sie nehmen sollen, obgleich sie noch gar nicht wissen wohin die jeweilige führt. Währenddessen verpassen sie die Blumen am gegenwärtigen Weg.

Und dann kommt der Tag, an dem wir an der Kreuzung stehen. Was nun? Einfach stehenbleiben und ignorieren, so tun als würden wir es nicht sehen? Rechts in den Sandweg einbiegen, der allerdings jetzt schon nach langsamerem Vorankommen und mühseligem Gehen aussieht? Links, in den Wald, der gleichzeitig beschützend, aber dennoch dunkel unheimlich aussieht? Geradeaus, über die Brücke, die zwar wackelig scheint, aber wo die Straße dahinter glatt geteert ist und irgendwie so aussieht wie die, auf der man gekommen ist. Oder gar umdrehen und alles bleibt wie es ist. Tut es das dann auch?
Soll man die Entscheidung alleine treffen oder fragt man einen Freund? Höre ich auf das Herz oder den Verstand? Kompass, Landkarte, Fehlanzeige.  Und wo sind überhaupt die Schilder geblieben, wenn man sie am dringendsten braucht?

Sehnsucht nach der Ferne ...

Sehnsucht nach der Ferne
Auf der Straße der Sterne
Pilgern ohne Hast
Leben ohne Last
Lachen weil ich kann
Singen dann und wann
Trost ohne vorauszuschauen
Lerne mir selbst wieder zu vertrau‘n
einfach nur den Zeichen folgen
mitziehen mit Wind und Wolken
grüne Felder Blütenduft
endlich krieg ich wieder Luft
Abends dann mit Freunden beim Mahl
Reden ohne jede Qual
Der Weg das Leben und der Sinn
Ziehen nach Santiago hin
Wirklichkeit nicht Schein
Auf dem Camino kann ich SEIN


(Wiebke B. Beyer)

I’m a pilgrim on the way to Santiago …



Trabadelo. 4.5.2011. Ich habe wirklich gut geschlafen. Das Fenster ist offen, was die Luft gut macht und den Schlaf auch. Um sechs Uhr geht die kleine Spanierin. Ich stehe circa 20 Minuten später auf. Ins Bad, dann im Dunkeln packen. Schätze, die anderen im Zimmer hassen mich in dem Moment, aber für heute bin ich eben mal ganz der Frühraschler. Außerdem wird es auch im Gang vor dem Zimmer und draußen langsam laut. Nach einem ausgiebigen Frühstück aus meinen Vorräten mache ich mich auf den Weg. Vorbei an der Templerburg, die sich im Stadtzentrum von Ponferrada breitmacht, und immer den Zeichen folgend.

Mein Rucksack ist nach dem gestrigen „Einkaufswahnsinn“ etwas schwer und ich nehme mir mal wieder vor, das nächste Mal nicht hungrig in den Laden zu gehen. Aber für heute trage ich ihn tapfer. Dennoch bin ich am Anfang ein bisschen langsam unterwegs. Erst als ich anfange mir ein Lied mit erfundener Melodie zu dichten, finde ich „The rhythm of the walk“ ...

I’m a pilgrim on the way to Santiago
I started with a troubled mind
I worried ‘bout my body, soul and cargo
But I’m still walking on
Ref.: Got to get the rhythm of the walk (3x)
tock, tock, tock, walk, walk, walk

If I’m lucky the sun is shining
and it’s fun to walk
everybody seems to be smiling
and I can hear the angels talk
Ref.: Got to get the rhythm of the Lord …

Some days raindrops are falling
But I’m still going on
‘cause I can hear Santiago calling
and I can’t resist the song
Ref.: … walk …

The road isn’t always easy
through forest, city streets and fields
paved, stones, sometimes even greasy
up and down the hills
Ref.: … walk …

At times I walk with other pilgrims
at times by myself and hide
but I’m never alone out there
‘cause I got my Guardian Angel by my side
Ref.: … Lord …

I’ve been walking for many days now
my heart is joyful and free
the sun is shining on me somehow
and the lord is watching over me
Ref.: … Lord …

And as my prayers grow stronger
I can feel Compostela is near
Soon I won’t have to walk any longer
and to me the message is clear
… and now I lost all my fear!
Ref.: … Lord …

Der Weg führt mich durch eine schöne Landschaft. Weinbau bestimmt große Teile des Bildes. Mir fällt vor allem auf, wie viel Frühling, ja fast schon Frühsommer, hier herrscht. Die Weinstöcke haben ein üppiges Blattwerk und ich sehe sogar einen Kirschbaum, der schon murmelgroße grüne Früchte trägt. Und auch wenn ich immer wieder andere Pilger sehe, so laufe ich doch ganz für mich meinen Weg.

Vor dem nächstgrößeren Ort mache ich unter einem Baum auf einem Mäuerchen Mittagspause. Käse und Brot, die Tomate, die Emile mir geschenkt hat, einen Riegel Schokolade und einen halben Liter spanische Limonade. Das stärkt mich und erleichterte den Rucksack. Allerdings will all die Flüssigkeit dann auch wieder heraus und natürlich gerade, als ich durch das Städtchen laufe. Ziemlich ungünstiger Zeitpunkt. Mir bleibt nichts übrig als weiterzulaufen. Die Rettung kommt in Form des Schildes eines Souvenirshops, auf dem steht, dass Pilger dort das WC umsonst benutzen dürfen. So steuere ich diesen an. Beim Näherkommen sehe ich, dass ebendieser Shop zu einer Wein-Kelter gehört, und ich frage mich, ob ich das Schild richtig interpretiert habe. Inzwischen muss ich aber ziemlich dringend und es gibt weit und breit auch keine andere Möglichkeit, so frage ich eine Spanierin, die gerade dabei ist den Boden zu wischen. Sie sagt, ja, ich müsse hier durch die Lagerhalle (mit großen Gärkesseln), dann durch die zweite (in dieser stehen Kisten voll mit Weinflaschen) und dann da ganz hinten die Treppe hoch und rechts. Okay. Ich gebe zu, ich fühle mich nicht wirklich wohl hier so mitten durch die Produktion zu laufen, ganz davon abgesehen, dass ich den Geruch nicht mag. Aber dafür ist die Toilette sehr sauber und ich bin dankbar. Der eine oder andere Pilger wäre vielleicht noch für eine Weinprobe geblieben, aber das ist nun gar nichts für mich, so bedanke ich mich und ziehe meines Weges.

Nach dem Ort Villafranca del Bierzo verpasse ich irgendwie die Abzweigung, um den Weg durch den Wald zu nehmen, und finde mich an der Straße laufend wieder. Das ist weniger schön. Die Landstraße schlängelt sich unten in einem engen Tal, über das weit oben immer wieder die Autobahn entlangführt. Zum Glück hat man zum Schutz der Pilger eine Betonmauer gleich neben dem Fußweg hochgezogen. Auch andere Pilger laufen diese Strecke. Unter anderem sehe ich zwei Männer, die ich dann überhole, die mir sehr unheimlich sind. Zwar mit Jakobsmuscheln auf den Rucksäcken, aber ziemlich abgerissen und dreckig und mit stierem Blick. Hoffentlich werden sie woanders zum Übernachten hingehen als in Trabadelo.
Ich lasse mir trotzdem die Stimmung nicht verderben und laufe, mein Liedchen singend, weiter und komme an. Trabadelo ist ein Miniort und die zwei Typen wandern zum Glück weiter. Ich steuere die Municipal-Herberge an, die sich als klein, aber fein entpuppt und nicht so überlaufen ist.

Wie in den letzten Tage dusche ich erst mal, dann Wäsche waschen und etwas essen. Vor allem hier in der Pampa nimmt es wohl keiner mit der Pünktlichkeit so genau, denn als ich am örtlichen Tante-Emma-Laden vorbeilaufe, hat der entgegen einem Schild an der Tür geschlossen. Ich spaziere einfach noch ein Stück weiter die Straße entlang. Ich brauche etwas zu trinken und möchte ungern das Wasser aus dem Wasserhahn nehmen. Nach circa 200 Metern komme ich zu einer Tankstelle. Die habe ich schon von Weitem gesehen. Und durch die Nähe einer Autobahnausfahrt ist sie neu, groß und ziemlich gut sortiert.
Später schaue ich noch kurz beim Mini-Supermarkt, der inzwischen offen ist, rein und sehe, dass dieser typisch für die Läden in den kleinen Orten entlang des Jakobsweges ist. Ich mag diese Läden nicht sonderlich, da die Waren oft überteuert sind, vor allem für Pilger. Es gibt keine Preisauszeichnung, die Preise werden, so mein Gefühl, eher gefühlsmäßig je nach Kundschaft gemacht. Oft sind die Läden auch schmuddelig und die Verfallsdaten der Lebensmittel weit überschritten. Ich bin froh, dass ich noch Vorräte aus Ponferrada habe.

Im Erdgeschoss der Herberge gibt es einen großen Küchen-Aufenthaltsraum, im ersten Stockwerk befinden sich die „Schlafzimmer“ und Duschen. In meinem Zimmer (Sechs-Bett) ist eine australische Frau mit ihrer Tochter. Diese schätze ich auf circa 14 Jahre, obwohl sie geistig eher auf dem Stand einer Siebenjährigen ist. Die Frau erzählt mir, dass es ihr wichtig sei, den Jakobsweg mit ihrer geistig behinderten Tochter zusammen zu laufen. Sie gehen nur kurze Etappen, aber es macht Spaß. Sie hofft in Santiago anzukommen, falls nicht zu Fuß, dann eben mit dem Bus. Ich bewundere sie, finde sie schlicht unheimlich mutig!
Was „leiste“ ich dagegen schon wirklich? Prinzipiell körperlich fit, bis auf meinen rechten Fuß, an dem sich an der alten, verhärteten Stelle wieder eine Blase gebildet hat. Nur für mich allein verantwortlich, muss mir um nichts sonst Gedanken machen, unbekümmert. In diesem Moment komme ich mir fast schlecht vor und kann nicht sehen, dass auch ich schon etwas geleistet habe. Auf dem Weg und in meinem Leben.

Den Rest des Abends sitze ich auf der Terrasse in der Sonne, lese und beobachte die anderen Gäste. Unter anderem eine junge Deutsche. Bei der bin ich mir nicht so wirklich sicher, was sie hier auf dem Jakobsweg tut. Sie ist wohl mit ein paar Freundinnen unterwegs gewesen, mit denen sie sich beim gestrigen Barbesuch zerstritten hat. Um ihnen zu „entkommen“, ist sie von Ponferrada bis hier mit dem Bus gefahren. Nun trinkt sie erst mal ein paar Bier, später wechselt sie zu Rotwein und raucht wie ein Schlot. Auch das mit dem Wäscheaufhängen hat sie nicht so drauf und ich bezweifele, dass diese dann am Morgen auch trocken sein wird. Doch meinen Tipp will sie nicht annehmen.

Immer wieder interessant, wie unterschiedlich die Menschen doch sind, die auf dem Jakobsweg unterwegs sind. Das alleine ist es schon wert ihn zu erleben. (© aus „Manchmal muss man einfach weiterlaufen“ von Wiebke B. Beyer)

Wie wenig nütze ich bin ...


am Jakobsweg zwischen Flavignac und La Coquille

Wie wenig nütze ich bin,
ich hebe den Finger und hinterlasse
nicht den kleinsten Strich in der Luft.

Die Zeit verwischt mein Gesicht, sie hat schon begonnen.
Hinter meinen Schritten im Staub
wäscht Regen die Straße blank
wie eine Hausfrau.

Ich war hier.
Ich gehe vorüber ohne Spur.
Die Ulmen am Weg
winken mir zu wie ich komme,
grün blau goldener Gruß,
und vergessen mich, eh ich vorbei bin.

Ich gehe vorüber- aber ich lasse vielleicht
den kleinen Ton meiner Stimme,
mein Lachen und meine Tränen
und auch den Gruß der Bäume am Abend
auf einem Stückchen Papier.

Und im Vorbeigehn, ganz absichtslos,
zünde ich die eine oder andere Laterne an
in den Herzen am Wegesrand. (Hilde Domin)

Jede Zeit gehört zu uns



 Als ich heute Morgen beim frühen Spaziergang mit meinem Hund unterwegs war, schien es mir, als zwitscherten die Vögel noch lauter als sonst. Als ob sie den Frühling mit aller Gewalt herbeisingen wollten und obgleich es noch kühl war, war es mir ganz ‚warm ums Herz‘. Ich liebe den Frühling, wenn alles in der Natur aufwacht; das erste zaghafte grün, die Krokusse die noch etwas bräunlichen Wiesen bunt machen und die Menschen irgendwie fröhlicher scheinen.

Mir fiel etwas ein, das kürzlich jemand zu mir sagte: Frühling ist toll, aber auf den Winter könnte ich echt verzichten. Und wenn ich schon dabei bin, Frühmorgens kann auch ausfallen ….

Hm … ich überlegte im Weitergehen, ob ich auf eine der Jahres- oder Tageszeiten verzichten möchte. Ja ich mag den Frühling, aber der Sommer ist auch schön, mit seinen vielen Sonnenstunden und dem Duft von frischgemähten Rasen, den lauen Abenden und langen Tagen. Und  irgendwie ist der Winter auch nicht schlecht. Der hat so was Gemütliches und Ruhiges, heimelig und trotzig. Ja und der Herbst in seiner Buntheit, dem letzten Aufbäumen der Natur und den reifen Früchten, auch darauf möchte ich nicht verzichten.

Es gibt Menschen, die verschlafen den frühen Morgen gerne und sind in der Mittagszeit müde; der Herbst stimmt sie melancholisch und der Winter ist zu kalt ist.

Also: Wenn wir nun die Möglichkeit hätten, die eine oder andre Zeit zu streichen – würdest Du es tun?
Wenn du nun an dein eigenes Leben denkst, an die verschiedenen Zeiten – ob du auf eine nur, und sei sie noch so schwer gewesen, verzichtet möchtest?

Alle Zeiten sind Zeiten unseres Lebens. Und alles, was wir in den Zeiten leben, ist ein Stück von uns selbst. Wenn wir also auf eine bestimmte Zeit verzichteten, so verzichteten wir doch auf ein eigenes Stück Leben, oder?

… in diesem Sinne, alle einen schönen Wochenstart und eine wertvolle Zeit!