Die Geschichte zum Bild …
Flavignac. 19.3.2011. Der Tag fängt gut an, denn ich habe in
der Nacht hervorragend geschlafen. Ob es nun am warmen, reichhaltigen
Abendessen lag, an dem Tag Ruhe oder an dem doch etwas besseren Gleichgewicht
in mir, weiß ich nicht mit Sicherheit. Aber ich wache sehr erholt gegen kurz
vor fünf Uhr auf. Habe eine SMS von Helmut, dass er heute Nacht zu
Trainingszwecken für seine AT-Wanderung draußen schläft und ich zwischen fünf
und sechs Uhr zum Mond schauen soll. Leider kann ich den nicht sehen, da es
bewölkt ist und Bindfäden regnet. Ersteres finde ich schade, aber ich stelle
mir einfach vor, wie Helmut im Garten sein Lager aufgeschlagen hat und zum
Sternenhimmel schaut. Letzteres dagegen, also der Regen, macht mir komischerweise
gar nicht viel aus. Ich fühle einfach, es ist gut, wie es ist, und was immer
für mich heute bestimmt ist, so soll es sein. Mir kommt dann noch der Gedanke:
Manchmal geht das Leben dahin, wo ich will. Und manchmal gehe ich eben dahin,
wohin das Leben will. Hoffentlich kann mich diese innere Gelassenheit durch den
Tag begleiten und so auch das Tragen meiner Siebensachen erleichtern. Diese
packe ich nun in aller Ruhe und gehe dann um 6.45 Uhr ein Stockwerk nach unten
in die Küche. Ich denke, ich mache mir schon mal einen Kaffee. So langsam
gewöhne ich meinen etwas verwöhnten Gaumen an den Nescafé. Ich bin leise und
versuche die Schwestern nicht zu stören. Wobei die sicher schon wach sind. In
meiner Vorstellung von Klosterleben beginnen diese ihr Tagwerk ziemlich früh.
Wobei es hier aber mucksmäuschenstill scheint.
Jemand hat schon Teller und Besteck für mich hingelegt und
ich hole mir Butter und Marmelade aus dem Kühlschrank. In dem Moment kommt auch
schon eine Schwester und bringt mir ein Brot und sehr viele nette Worte. Ich
frühstücke in aller Ruhe, mache mir noch ein Brot mit Schinken für unterwegs
und ich bin bereit zum Abmarsch.
„Lève-toi et va vers toi-même“ (Steh auf und laufe dir
selber entgegen). Als ich aus dem Fenster schaue, sehe ich, dass es zwar immer
noch dicht bewölkt ist, aber immerhin hat es aufgehört zu regnen. Na also.
Dennoch beschließe ich den Regenschutz-Müllsack über den Rucksack zu stülpen
und muss lächeln, denn mir fällt ein altes Beduinensprichwort ein: Vertraue
Allah, aber binde dein Kamel an.
Auf dem Weg nach draußen treffe ich sogar noch eine der
Schwestern, um mich zu bedanken, und nehme mir fest vor, ihnen, wenn ich wieder
zu Hause bin, aus Texas eine Karte zu schicken!
Zunächst einmal folge ich der goldenen Muschel, die mich -
im Gehweg eingelassen - durch die Stadt führt. Etwa fünf Kilometer oder mehr
durch Limoges und dann die Vorstadt Isle. Da es Sonntagmorgen ist, ist nicht
allzu viel los und der Weg führt auch meist durch die etwas besseren
Wohngegenden und dann hinaus in eine angenehme Landschaft.
Der nächstgrößere Ort nach 14 Kilometern ist
Aixe-sur-Vienne. Mein schlauer Pilgerführer sagt mir, dass ich irgendwo links
die Treppe zur Kirche hochgehen soll. Doch auch nach mehrmaligem Hin- und
Herlaufen kann ich keine Treppe finden. Und auch die Zeichen für den Jakobsweg
sind nicht zu sichten. Vielleicht sind Pilger in diesem Ort nicht so
willkommen? Oder hat jemand in einem Dumme-Jungs-Streich die Zeichen
abgenommen? Ich konsultiere meine Karte und stelle fest, ich kann die D20
entlanglaufen. Ist zwar nicht so schön, an der Straße zu pilgern, aber da es
Wochenende ist, dürfte sich der Verkehr in Grenzen halten. Ich sehe ein Schild
nach Flavignac, meinem heutigen Etappenziel. Zehn Kilometer. Zunächst denke
ich: Was? So nah? Da kürze ich ja bestimmt zehn Kilometer ab! Und ich bekomme
fast ein schlechtes Gewissen. Aber Mathematik war ja noch nie meine Stärke, und
wie ich nun so weiterlaufe und nachdenke und nachrechne, fällt mir auf, es sind
nur etwa drei Kilometer, die ich weniger laufe, also nicht mal eine Stunde! Das
beruhigt mich wieder. Nicht, dass es viel ausmacht, theoretisch, denn niemand
ist hier draußen, der mich be- oder gar verurteilt, nur ich! Aber es ist ebenso
ein kurzer Anflug eines Gefühls des Schummelns.
Flavignac rückt näher. Ich würde gerne zwischendurch mal
eine Pause einlegen, aber es bietet sich einfach keine Gelegenheit. Ich ergebe
mich der Illusion, dass es im Ort hoffentlich ein Café gibt, wo ich warten
kann, bis mir jemand den Gȋte öffnet. Ich habe mit der Dame 16.00 Uhr
vereinbart. Doch notfalls habe ich die Telefonnummer und somit nicht allzu
große Bedenken.
Im Städtchen angekommen, gehe ich, wie fast immer, erst mal
Richtung Kirche. Gleich gegenüber sehe ich auch schon die Herberge, die ist
aber wie erwartet verschlossen. Nicht so schlimm. Ich habe es mir inzwischen
zur Gewohnheit gemacht, wenn ich in einem Ort ankomme und die Möglichkeit
besteht, in der Kirche einen Moment zu bleiben. Dies, um mich bei meinen „guten
Geistern“ oder wer es auch ist, der oder das oder die mich auf diesem Weg
beschützen, zu bedanken. Warum nur fällt es mir so viel leichter an einen
Schutzengel zu glauben als an Gott? Ich scheue mich noch immer davor, den
Ausdruck „Gott“ zu gebrauchen. Obwohl der im Prinzip genauso gut ist, wie jeder
andere Name, allerdings finde ich ihn irgendwie fast abgegriffen. Die Anonymen
Alkoholiker sagen: „God as you understand him or your higher power, whatever
that may be for you.” Das kann ich annehmen! So genieße ich einfach noch eine
Weile die Ruhe im Inneren der Kirche, komme an.
Irgendwann raffe ich mich dann auf und schlendere Richtung
Marktplatz. Ich nehme an, dort ist die Chance am größten eine Telefonzelle zu
finden. Ich will wegen der horrenden Gebühren ungern mein deutsches Handy
benutzen. Natürlich sehe ich nichts außer einem jungen Mann, der gerade etwas
aus einem Lieferwagen auslädt. Den frage ich, ob er weiß, ob es hier so etwas
wie ein öffentliches Telefon gäbe. Er zuckt die Achseln und schüttelt
gleichzeitig den Kopf, was ich als Verneinung interpretiere. Aber ich kann
gerne sein Handy benutzen: For free! Er hat natürlich bemerkt, dass ich
Ausländerin bin, und will gleich seine Englischkenntnisse zum Besten geben. Ich
finde das sehr nett, gleichwohl ich natürlich auch mein Französisch an den Mann
bringen will. Er reicht mir das Gerät und schon stehe ich vor der nächsten
Herausforderung. Er hat nämlich so ein supermodernes Teil, bei dem man auf
Anhieb nicht genau feststellen kann, wo vorne, hinten, oben oder unten ist. Ich
drehe es kurz und sehe das Ding wohl so unbeholfen an, dass er die Nummer für
mich wählt. Madame Ivers sagt, sie kommt gleich zum Gȋte und bringt den Schlüssel.
Ich bedanke mich noch mal bei dem jungen Mann, der mir dafür ein äußerst
charmantes Lächeln schenkt. Na, so ein Tag kann doch nicht schlecht sein.
Die Herberge ist einfach nur schön. Ein richtig netter
kleiner Refuge Pèlerin. Immer wieder bin ich erstaunt und sehr dankbar für all
die Freiwilligen, die Städte und Sponsoren, die solche Herbergen für die Pilger
möglich machen. In diesem gibt es sogar richtige Bettdecken und Kopfkissen mit
Bettbezügen. Normalerweise legt man ja einfach nur seinen Schlafsack auf die
Matratze. Ich danke hierfür sehr gerne mit meinem Unkostenbeitrag von zehn Euro
und einem Sprüchlein fürs Livre d’or, wie das Gästebuch genannt wird. Als ich
heute Morgen beim Frühstück in einem der Bücher blätterte, fand ich einen
passenden Spruch, den ich erweitere: C’est toujours en tremblant qu’on fait le
premier pas. Arrivé dans un refuge comme ici c’est tout oublié! – Es ist jeden
Tag aufs Neue schwer, den ersten Schritt zu machen. Wenn man in einer solchen
Herberge wie hier ankommt, ist all das vergessen.
Nachdem ich mich in der obligatorischen Liste eingetragen,
gezahlt, mich ein wenig häuslich eingerichtet und ausgeruht habe, mache ich
noch einen Spaziergang durchs Dorf. Dabei entdecke ich zunächst einen
Magnolien-Baum, der gerade anfängt zu blühen. Frühling, denke ich, und es ist
fast, als entzünde der Gedanke ein Licht in mir. Ich finde auch einen kleinen,
sehr hübschen See mit Sandstrand, an dem fast so etwas wie ein bisschen
„Meergefühl“ aufkommt, zumal eine leichte Brise weht.
Auf meiner Runde halte ich dann noch im örtlichen
Tante-Emma-Laden, der ziemlich gut sortiert ist. Ich will mir am Abend Reis
kochen und brauche noch Käse und Gemüse. Das System des Gebens und Nehmens, das
für die Herbergen hier gilt, bringt Pilger auf eine gewisse Weise zusammen,
auch wenn man sich nie begegnet. Zum Beispiel der Reis. Jeder Wanderer ist
bemüht das Gewicht seines Rucksacks so gering wie möglich zu halten, so möchte
man nicht unbedingt ein ganzes Paket Reis schleppen, wovon man eben nur ein wenig
verbraucht hat. So lässt man ihn für die Nachfolgenden stehen. In diesem Fall
bin das ich. Ich werde aber auch noch etwas hier lassen. Ich werde den
Marmeladenvorrat des Gȋte auffüllen. Mir ist nach „süß“, aber ein ganzes Glas
mit mir herumschleppen? Nein. So stelle ich den Rest für die mir Nachfolgenden
in den Kühlschrank.
Abendliche Routine, essen, abwaschen, duschen, Unterhosen
auswaschen und dann trinke ich zum Ausklang eines schönen Tages noch einen
Pfefferminztee. Während der Hirschtalg in die Haut meiner Füße dringt, sinniere
ich vor mich hin: Ich denke darüber nach, dass ich, als ich heute Nachmittag
feststellte, dass ich früher als erwartet in Flavignac war, kurz überlegte,
dass ich ja weitergehen könnte. Doch dann merkte ich, das fühlte sich nicht
richtig an. Es ist gut nach dem Ruhetag einen nicht so langen Wandertag zu
haben. Und nun bin ich froh, denn es ist wirklich hübsch hier. Auch bin ich
heute viel mehr „auf dem Weg“ als sonst und das ist das beruhigendste und
bestärkendste Gefühl bisher. (aus „Manchmal muss man einfach weiterlaufen“ von
Wiebke B. Beyer)
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