Von der Vergänglichkeit ... oder die letzte Lektion.

Vor ein paar Tagen erreichte mich die Nachricht davon, dass ein guter Freund den Kampf gegen den Krebs verloren hat. Ich weiß, ist kein Einzelfall, denn diese Krankheit trifft viele. Aber natürlich macht es viel mehr betroffen, wenn man denjenigen kannte. Vor allem wenn es ein Mensch ist, dem ich persönlich gegönnt hätte, 100 Jahre zu werden. Doch weiß ich, wirklich ob er das wollte? Nein, ich weiß es nicht. Was wusste ich überhaupt über ihn?
Zu sagen, er hatte eine bewegte Vergangenheit, wäre fast schon eine Untertreibung. Über viele Jahre war er alkohol- und drogenabhängig mit all den damit verbundenen Auswirkungen wie Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Kriminalität.
Als ich ihn kennenlernte, hatte er aber dieses Leben hinter sich gelassen und einen Neuanfang gemacht. Er ist aufgestanden, hat mit weniger als Nichts eine Existenz aufgebaut. In seiner von mir immer bewunderten Bescheidenheit und Demut schien er mit festen Schritten seinen Weg zu gehen. Hat sich hochgearbeitet.
Wie traurig macht es mich da, dass gerade er gehen musste. Doch dann denke ich, um ein wievielfaches besser jetzt, in einem Krankenhausbett, wissend Freunde und Familie zu haben - als vor 15 Jahren wahrscheinlich irgendwo alleine in der Gosse ...
Kürzlich las ich einen Spruch: Mut ist nicht die Kraft zu haben, um weiterzulaufen. Mut ist Weiterlaufen, wenn Du keine Kraft mehr hast. Das ist ein Spruch, den ich unbedingt mit Harald verbinden kann.
Es ist nichts Besonderes, wenn man im wahrsten Sinn des Wortes im Angesicht des Todes anfängt, über Leben nachzudenken. Dieses kostbare Gut, das ich - wie ich zugeben muss - allzu oft mit Füßen getreten habe und immer noch tue. Heute lebe ich gesünder, ernähre mich gut und achte auf mich. Aber die Misshandlungen, wie ich sie meinem Körper früher angetan habe, können mich immer noch einholen. Doch das meine nicht wirklich. Nein, oft erscheint mir das, was ich tue, fahl, das Sein ist Routine und eher Sackgasse als Pilgerweg. Ich renne und strample und komme doch irgendwie keinen Schritt voran.
Klar kommt dann die Frage auf, was tue ich mit der begrenzten Zeit, die mir zur Verfügung steht? - Ich kann darauf vielleicht sogar antworten ich nutze sie sinnvoll! Aber lebe ich auch? Was verstehe ich überhaupt darunter. Wie will ich leben?
Da gibt es einen Drang nach etwas, eine Sehnsucht nach Leben. Diese sitzt wie ein Stachel unter der Haut und im Angesicht der Vergänglichkeit bohrt er sich jedes Mal ein Stückchen tiefer. Da wird sie dann laut die Stimme, die danach schreit aufzuwachen und zu sehen ... Und dann kommt die Sehnsucht nach einem anderen Leben einem anderen Ich, das sich getraut aus dem Altvertrauten zu treten und die klapprig scheinende Hängebrücke der Veränderungen zu überqueren.
Nicht die Umstände sind es, die dich schaffen, du bist es, der die Umstände schafft. (Benjamin Disraeli)
Manch einer sagt nun: Aber Du bist doch schon ... und Du hast doch ... Ich weiß. Ich habe schon dieses und jenes gemacht, mir manchen Traum verwirklicht. Und doch das Gefühl ich bin noch nicht angekommen, da muss noch mehr sein. Was ist es also, was mich weitertreibt? Suche nach Leben? Kann ich nicht zufrieden sein mit dem was ich erreicht habe? Ist es die Angst vor dem Tod. Nein, diese letzte Frage kann ich ganz klar mit „Nein“ beantworten. Ich habe dem Tod schon ein paar Mal – mal von weiter weg, mal von ziemlich nah dran - in die Augen geschaut und er erschreckt mich nicht.
Wer immer glücklich sein will muss sich oft verändern.
Also ist es die Angst davor „nicht genug zu leben“? Nicht lange genug? Aber auch dies ist nicht alles. Es gibt Tage, da will ich noch ewig leben um z.B. genug Zeit zu haben all die Merkwürdigkeiten dieser Erde zu sehen und alle Kontinente zu bereisen, oder auch all die Bücher, Klassiker zu lesen und verstehen, die im Regal einstauben. Doch dann geb ich angesichts des Umfangs auf, weil ich es nie schaffen kann und denke es ist doch eher sinnlos. Ein ewiger Zwiespalt. Nicht selten fange ich dann in genau diesem etwas Neues an, damit ich nicht in die einer oder andere Richtung gezogen werde ...
Ich denke, die entscheidende Frage ist wohl: wie kann ich lernen einerseits mit dem Leben zufrieden zu sein, das ich habe, das ist - andererseits aber auch der notwendigen Sehnsucht nachzugeben. Das Geheimnis liegt wohl - wie so oft - irgendwo in der Mitte. Dort wo ich es schaffe eine Balance zu finden, zwischen der Zufriedenheit mit dem was ich habe und dem Mut auch immer mal wieder etwas zu verändern, sich erneuern, dort liegt sicher ein großer Teil des Glücks.
In dem Gedicht „Sozusagen grundlos vergnügt“ von Mascha Kaleko heißt es „Ich freu mich. Das ist des Lebens Sinn. Ich freu mich vor allem, dass ich bin.“ Beneidenswert. Erstrebenswert.
Tod – vor allem der eines einem nachstehenden Menschen - zeigt mir immer die Vergänglichkeit. Ich persönlich bin der Vergänglichkeit dankbar, das es sie gibt. Würde ich nämlich die Aussicht, habe ewig zu leben, würde ich wahrscheinlich noch mehr Zeit verplempern mit all den unnötigen Dingen ... viel mehr nach dem Motto leben: nur noch diese eine Pflicht, dann das Vergnügen ... noch mehr Leben wegwerfen, als ich es wahrscheinlich sowieso schon tue ...
Von meinem Freund Harald habe ich gelernt, dass Lachen eine gute Medizin ist. Es schien mir immer, als beherrsche er die Kunst, dass er das Leben lebt, das er hat. Ein bisschen mehr durfte es sein, aber kein Überflieger. Nicht davonlaufen, sondern aus dem, was da ist, mehr machen – immer wieder aufstehen, wenn man fällt. Nicht klein beigeben. Auch hat er gerne weitergegeben, was er erfahren und gelernt hat.
Und nun gibt er mir diese letzte Lektion: Sein Tod hat mich mal wieder mit der Nase darauf gestoßen, mich nicht hinter meiner Unzufriedenheit und Ungeduld zu verstecken. Steh auf und tu! Danke Harald! ...

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