Woher, wohin, warum?



Nevers. 10.3.2011. Gestärkt und motiviert durch das sehr reichhaltige Abendessen, steht es für mich am Morgen außer Frage, nach Nevers zu laufen. In meinem Führer ist die Strecke mit „32 Kilometer“ angegeben, das bedeutet circa acht Stunden laufen. Das schaffe ich. Ich frage mich ernsthaft, ob jeder andere Pilger, der hier läuft, sich seiner Sache sicher ist und nur ich ständig Zweifel habe. Wenn ich mir, so wie in der Chambre d’hôtes in Prémery, die Einträge in den Gästebüchern anschaue, kommt es mir so vor, als seien all die Schreiber restlos und ausschließlich enthusiastisch! Ich habe schon darüber nachgedacht, dass ich vielleicht deshalb ein bisschen „unmotiviert“ bin, weil ich glaubte, ich würde etwas Großes finden. Bisher finde ich bewusst jedoch eher Kleinigkeiten, die ich vielleicht aber einfach noch nicht richtig erfasse. Ich lerne zum Beispiel, dass man mit schmerzenden Füßen noch ziemlich weit kommt. Dass man 30 Kilometer am Stück wandern kann. Ich habe ein Stück Dankbarkeit für nette Menschen gefunden und „Sehnsucht“ nach Ruhe. Das ist schon eine Menge, aber irgendwie bin ich noch nicht zufrieden. Doch woher sollen Antworten und Erkenntnisse kommen, wenn ich mich noch nicht traue, mir die Fragen zu stellen?

Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich durchaus davon überzeugt bin, dass ich Unruhe mag, aber dem ist gar nicht immer so. Ich habe oft das Gefühl, unterwegs sein zu müssen, und nun sehne ich mich nach einem Tag Stillstand? Was mich zu einer sehr naiv formulierten Frage führt: Was hat der liebe Gott sich dabei gedacht, den Menschen so zu erschaffen, dass er immer das will, was er gerade nicht hat? Ich weiß es nicht.
Nun, nach einem kleinen Frühstück, das etwas karger als die letzten Tage ist (und das Croissant ist von gestern, aber es gibt eine gute Tasse Kaffee), marschiere ich los. Die Etappe selbst ist relativ leicht, da es meist an einer kleinen Nebenstraße mit wenig Verkehr entlanggeht. Ein wenig hoch und runter, aber auch dies recht annehmbar. Leider sind meine Beine heute sehr schwer und ich fühle mich körperlich erschöpft. Gefühlsmäßig sollte ich nach dem guten Essen gestern doch wieder genügend Kräfte haben, aber dem ist irgendwie nicht so. Wahrscheinlich tummeln sich alle meine roten Blutkörperchen im Magen und im Darm, um beim Verdauen zu helfen. Doch ich schleppe mich tapfer weiter vorwärts, Kilometer um Kilometer.

Etwas wacher werde ich beim Dörfchen Guérigny. Der Weg führt hier an stillgelegten Fabriken vorbei. Auf einer Seite sind alte Arbeiterwohnheime, in denen heutzutage wahrscheinlich höchstens ein paar Hausbesetzer oder Penner übernachten. Eine fast gespenstische Stille kommt auch von den zerfallenen Hallen auf der anderen Seite der Straße. Fasziniert betrachte ich die Szene und wundere mich, warum die Gebäude nicht abgerissen wurden. 

Auf gut Glück nehme ich meinen schlauen Führer zur Hand und finde heraus, dass hier aus der Not eine Tugend gemacht und aus den alten Fabriken ein Industriemuseum geschaffen wurde. Wie in einem Film sehe ich vor meinem geistigen Auge Arbeiter mit erschöpften, rußgeschwärzten Gesichtern, die sich zu den Schlafsälen schleppen. Dicke Vorsteher, die herumbrüllen, Buchhalter mit Ärmelschonern, die mit Papieren wedeln, und riesige Maschinen, die so laut sind, dass eine Unterhaltung unmöglich ist. Ein Mensch mit viel Fantasie zu sein, hat durchaus seine schönen Seiten. Leider ist das Museum heute geschlossen, sonst hätte ich mich gerne noch ein wenig länger umgesehen und vielleicht sogar die Bilder aus meinem Kopf auf alten, vergilbten Fotos wiedergefunden.
Als ich fast durch die Stadt durch bin, sehe ich eine Bushaltestelle. Ich überlege kurz, für die restliche Strecke den Bus zu nehmen. Nur so aus Neugier schaue ich also auf den Plan, aber ich verwerfe den Gedanken sofort wieder: Ich habe nämlich keine Lust, zwei Stunden auf den Bus zu warten! So stapfe ich weiter. Ich mache noch eine kurze Pause, um eine Hälfte meines belegten Brotes zu essen, gehe aber nach wenigen Bissen schon weiter. Ich habe nicht wirklich das Bedürfnis, mich auf den Boden beziehungsweise ins Gras zu setzen, aus Angst dass ich dann nie mehr hochkomme.
Während ich weitertrotte, kommt mir der Gedanke, dass ich vielleicht gar nicht so auf dieses große Aha-Erlebnis warten, sondern vielmehr all die kleinen Dinge annehmen sollte. Dessen ungeachtet glaube ich, dass ich dazu durchaus schon in der Lage bin, denn sonst wäre ich gar nicht so weit gekommen. Nicht auf diesem Weg, und vor allem nicht in meinem Leben. Zum Beispiel heute, als ich mitten im Nirgendwo an ein paar vereinzelten Häusern vorbeigelaufen bin. Eine ältere Frau in einem abgetragenen Kleid brachte gerade ihre Enkelkinder an die Ecke zur Bushaltestelle und sah mich. Sie rief von Weitem: „Bon chemin!“ Einfach so. Ich rief „Merci“ zurück und freute mich riesig. Dieses kleine Erlebnis trug mich dann eine ganze Weile die Straße entlang. Erfahrungen dieser Art sind einfach schön und berühren mich tief im Innern. So reihen sich die kleinen Dinge aneinander wie eine Kette oder wie ein roter Faden durch diese Zeit. Doch ich gebe zu, ich habe auch ab und zu mal so etwas wie Heimweh. Einfach ein Bedürfnis, einmal wieder mit einem vertrauten Menschen zu sprechen, meine Hunde zu knuddeln und natürlich auch in meinem eigenen Bett zu schlafen. Aber mich erschreckt es fast ein wenig, wie selten diese Momente sind. In einem noch ziemlich verborgenen Winkel meines Herzens dämmert mir, dass sich nach dieser Reise viel verändern wird.
Doch noch bin ich unterwegs, und die kleinen Nettigkeiten sind für heute noch nicht aufgebraucht. Kurz vor Nevers (für Interessierte: die berühmte Rennstrecke von Magny-Cours ist nur wenige Kilometer entfernt) nehme ich eine falsche Abzweigung und komme so von einem anderen Ende in die Stadt, als mein papierner Begleiter es beschreibt. Ich denke mir, ist nicht so tragisch, da ich auch einen kleinen Stadtplan habe. Dennoch finde ich nicht gleich den richtigen Weg zu meinem Etappenziel. Zwei Frauen laufen an mir vorbei. Als sie schon ein paar Schritte weiter sind, dreht sich eine von ihnen noch mal um und fragt, ob ich den Espace Bernadette suche. Ich nicke: „Oui.“ Sie kommt zurück, schaut mit mir auf den Plan und erklärt mir, wo ich entlanggehen muss. Dann wünscht sie mir noch „Bon courage!“ und geht weiter. Einfach so, ohne Fragen, ohne Bitte. Ich bin dankbar.
Nun finde ich den Weg problemlos und bekomme in der Maison St.-Gilard ein Zimmer. Leider ist klösterliche Nächstenliebe auch nicht mehr umsonst, und so darf ich hier 35 Euro berappen. Als ich jedoch in mein Zimmer gehe und die sehr beruhigend wirkende Stille dieses Ortes spüre, bin ich versöhnt.

Der Konvent Espace Bernadette, zu dem eben auch die Gästezimmer gehören, geht auf die heilige Bernadette zurück. Bernadette Soubirous wurde in Lourdes geboren. Einige Tage vor ihrem 14. Geburtstag hatte sie zum ersten Mal die Vision einer weiblichen Gestalt in der Grotte Massabielle. Insgesamt wiederholte sich dies noch 17 Mal. Die Frau verlangte von Bernadette den Bau einer Kirche. Als sie Bernadette zum Trinken aufforderte, kratzte diese etwas Erde weg, es entsprang eine Quelle. Lourdes ist heute einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte, nicht nur für Katholiken, wovon ich mich selbst ein paar Wochen später überzeugen kann. Bernadette wurde der Trubel zu groß, der schon um 1866 in Lourdes herrschte, weshalb sie sich den Barmherzigen Schwestern in Nevers anschloss. Sie starb 1879 an Knochentuberkulose. Ihr Körper blieb unversehrt und ist hier in diesem katholischen Konvent in der Klosterkirche aufgebahrt.
Bevor ich die Kapelle besuche, gehe ich erst einmal in die Stadt, um meine üblichen kleinen Erledigungen hinter mich zu bringen. Eine Bank suchen und Geld holen, eine Telefonzelle, um die Übernachtungsmöglichkeiten für die nächsten Tage zu prüfen. Dies, obwohl ich denke, das ist echt spießig und unspontan, aber mir ist wohler und ich bin beruhigter, wenn ich weiß, dass ich unterkomme. Zumal immer noch ganz viele Gîtes/Unterkünfte geschlossen sind. Oft erst am ersten April öffnen. Ich suche und finde eine Einkaufsmöglichkeit und besuche dann die hiesige Kathedrale, um mein Kerzchen anzuzünden.
Wieder im Konvent, bringe ich meine Beute ins Zimmer und gehe dann noch für ein paar Minuten in die Kapelle, wo die heilige Bernadette liegt. Eine ihrer Epoche entsprechend sehr kleine Person in einem relativ einfachen gläsernen Sarg. Und auch wenn ich nicht katholisch bin, spüre ich doch die Ausstrahlung. Als umgebe sie eine Energie, von der man sich seinen Teil abzapfen darf. Ich tue dies, denn ich bin inzwischen überzeugt, wenn ich es bis Santiago schaffen will, brauche ich alle Hilfe, die ich kriegen kann.
Bevor ich mich dann ganz in mein Zimmer zurückziehe, um diese heilsame Ruhe hier zu genießen, probiere ich die Duschen aus. Die sind herrlich sauber, warm und es kommt ein richtiger Strahl heraus, nicht nur Getröpfel. Da zahle ich doch gerne! Ich staune mal wieder über die großen Unterschiede bei Preis/Leistung der Unterkünfte entlang des Weges. Zum Abendessen, das ich am Schreibtisch, der unter dem Fenster im Zimmer steht, sitzend esse, gibt es einen leckeren Salat und Körnerbrot. Zum Nachtisch gleich zwei Panna-cotta-Cremes, denn es gab nur Zweierpacks und die Plastikbecher im Rucksack zu transportieren ist mir ein wenig zu riskant. In ein paar Wochen wird sich das allerdings ändern, da werde ich mutiger oder einfach gelassener. Gegen 20 Uhr falle ich ins Bett. Ich denke noch, wenn ich einen Fernseher im Zimmer habe, ist das nett, aber ohne ist auch richtig gut!
Mit wirren Bildern von Nonnen, die an riesigen Webstühlen in halb zerfallenen Hallen sitzen, schlafe ich ein.
Ich wache mitten in der Nacht auf und erinnere mich an etwas, das ich mal irgendwo gelesen habe. Ich muss es gleich aufschreiben:
Oft in meinem Leben ging ich ein und dieselbe Straße rauf und runter. An jedem Tag, jede Woche, manchmal ganze Jahre. Ich überlegte durchaus, wie es wohl wäre, mal eine der Seitenstraßen zu nehmen oder doch zumindest da hinten mal um die Kurve zu schauen. Aber meist scheint es mir da zu dunkel und geheimnisvoll. Der Mut fehlt, die Straße, auf der ich jeden Zentimeter kenne, zu verlassen. Aber meine Sehnsucht wird immer größer, diese Straße zu verlassen. Was erwartet mich, wenn ich einen der anderen Wege gehe? Je mehr ich darüber nachdenke, umso mehr komme ich zu dem Entschluss, dass es auch nicht schlimmer sein kann als dort, wo ich jetzt bin. Mehr lieben, mehr verletzen als bisher? Ich bin aus jeder Erfahrung gestärkt hervorgegangen. Also werde ich versuchen, es herauszufinden. Ich werde meine Wanderstiefel anziehen, eine Taschenlampe gegen die Finsternis mit- und all meinen Mut zusammennehmen und dann neue Wege beschreiten. (aus dem Buch "Manchmal muss man einfach weiterlaufen" von Wiebke B. Beyer)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen