Ein Bild und dessen Geschichte...






Ein bisschen Zuhause in der Fremde

La Coquille. 20.3.2011. Dieser Weg hält immer wieder Überraschungen für mich bereit und ich bin dankbar dafür.

Doch erst mal fange ich den Tag mit Erkenntnissen an, als ich am Packen bin:
1. Ich packe alles recht sorgfältig, immer mehr oder weniger dieselbe Reihenfolge und vieles zum Schutz noch mal extra in Tüten. Ganz meinem Sternzeichen „Jungfrau“ entsprechend ordentlich. In solchen ganz nahen, praktischen Dingen bin ich im Allgemeinen auch eher ein Sicherheitstyp. Und das ist gut so, denn im Kontrast dazu bin ich oft, zum Beispiel bei Planungen, eher nachlässig und spontan und in Gefühlsdingen kann es gar ins Chaotische gehen. Das eine hält mich am Boden, das andere lässt mich fliegen.
2. Als ich gestern die Landstraße vor Flavignac entlanglaufe, kommt mir ein älterer Mann auf einem Fahrrad entgegen. Er sieht mich und hält an, um zu grüßen. Dann fragt er natürlich das übliche Woher und Wohin. „Was“, fragt er, als ich es erzähle, erstaunt, „so weit läufst du, und das ganz alleine?“ Ich zucke nur mit den Schultern und sage: „Das ist gar nicht so schlimm und ich komme ja immer wieder durch Ortschaften.“ Er nickt noch einmal anerkennend und fährt weiter. Ist es wirklich nicht so schlimm? Er bringt mich dazu, über das Alleinlaufen nachzudenken. Ich fühle schon in manchen Situationen ein Unwohlsein, bis hin zur Ängstlichkeit. Es ist durchaus eine Herausforderung, vor allem in einsamen Gegenden. So ist es auch richtig, dass es einen gewissen Mut erfordert, diese Reise alleine durchzuziehen. Mir wird bewusst, ich brauche es nicht abzutun, wie ich es gerne gegenüber anderen ganz cool betone. Sondern ich kann stolz sein, es zumindest zu versuchen.
Mit solchen philosophisch angehauchten Gedanken im Sinn bin ich gegen sieben Uhr gesattelt und gespornt. Also marschiere ich los. Zunächst den Schlüssel bei der Mairie (dem Rathaus) in den Briefkasten werfen und schon bin ich auf dem Weg. Ein Stück folge ich dem Wanderweg, aber wie vom Pilgerführer angedeutet, führt dieser durch ein sehr feuchtes Gelände und so beschließe ich bis Châlus die Straße zu nehmen. Erstens, weil es einfacher zu laufen ist und zweitens an einem Sonntagmorgen wenig Autos fahren. Und so ist es auch. Ein herrlicher Morgen, wolkenloser Himmel und aufgehende Sonne. Einatmen, ausatmen, laufen. Sein.
Die schweren Stiefel an den Füßen fühlen sich gut an, passen perfekt. Kein Drücken oder Zwicken. Vergessen ist die Schwermütigkeit von vor zwei Tagen und ich bin ganz im Hier und Jetzt. Die Luft ist frisch und hat schon einen Hauch von Blütenduft. An vielen Bäumen zeigt sich das erste zaghafte Grün. Fast über Nacht ist es, als sei die Natur aufgewacht, und es scheint, dass sie nun versucht schnell die kalten Tage zu vergessen und nachzuholen. Es fühlt sich gut an, einfach so in den Tag hineinzulaufen, nicht wissend, was mich heute erwartet. Ich bin ganz bei mir und brauche mich nur um die ganz profanen Dinge des Lebens zu kümmern: essen und trinken und einen Schlafplatz finden. Die Gedanken nur bei diesem einen Tag, weil das, was morgen kommt, heute nicht wichtig ist. Gefühlte und gelebte Freiheit!
Das Château de Châlus-Chabrol schaue ich nur aus der Ferne an, auch wenn Richard Löwenherz persönlich hier nicht nur anwesend gewesen, sondern auch gestorben sein soll. Ich bin zwar in gewisser Weise im Urlaub, aber kein Tourist. Nicht unbedingt auf Besichtigungen aus. Ich verspüre nicht das Bedürfnis nach Kultur. Ich pilgere und für mich heißt das mehr, mich mit mir selbst zu beschäftigen, mit der Natur und mich nicht zu sehr ablenken zu lassen.
Zumindest nicht so sehr von Geschichte. Von dem Duft, der aus einer Bäckerei kommt, allerdings durchaus. Er hängt förmlich in den engen Gassen von Châlus. Und mein Magen knurrt schon wieder. Es scheint nicht nur mir so zu gehen, denn der Bäckerladen ist voll. Nun, es ist Sonntagmorgen und da haben die Leute auch Zeit für ein Schwätzchen mit dem Nachbarn und dann ein langes, spätes Frühstück. Als ich an der Reihe bin, kaufe ich mir ein Croissant. Und im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Bauch heraus nehme ich noch etwas, das aussieht wie eine Schneckennudel mit Rosinen. Diese ist äußerst lecker und ich staune mal wieder über meinen Appetit auf Zucker. Etwas, das normalerweise bei mir weniger ausgeprägt ist. Allerdings überlege ich mir, dass es wohl eher eine starke Disziplin und die Folgen meiner Essstörungen sind, die mich davon abhalten, Gebäck im Allgemeinen wirklich genießen zu können. Hier bin ich frei davon. Was für ein Geschenk! Mit vielen Kalorien gestärkt, marschiere ich munter weiter, jetzt über Waldwege und kleinen Sträßchen folgend. Ich finde die Abwechslung gut und denke, so werden wenigstens alle Muskeln mal bewegt.
Kurz vor Firbeix führt der Weg aus dem Wald heraus und ich komme an einer Gärtnerei vorbei. Hier herrscht Hochbetrieb, obwohl es Sonntag ist. Dies klärt sich auf, als ich ein Schild bemerke, das einen ‚Tag der offenen Tür‘ verkündet. Nun bin ich doch sehr versucht ein bisschen zu besichtigen. Ich habe immerhin drei Jahre die Gartenabteilung beim Lowes Baumarkt in Livingston, Texas geleitet und das steckt wohl noch ein wenig in mir. Aber die Menschenmassen halten mich letztlich zurück und ich laufe weiter bis zur N21, die ich hier überqueren muss. Eine auch sonntags extrem befahrene Straße und somit ein nicht ganz einfaches Unterfangen.
Auf der anderen Seite gibt es dann zum Glück eine Bank zum Ausruhen. Über dieser prangt ein Schild: 1240 Kilometer bis Santiago. Na dann, das geht ja. Wie sich doch der Blick verändert, wenn man so jeden Tag, oder fast jeden Tag, marschiert.
Noch ein bisschen sitzen bleiben und dann weiter. Nach circa 300 Metern führt der Weg direkt durch einen Bauernhof. Zunächst bin ich etwas verwirrt, aber nach dem Konsultieren meiner Karten ist klar: Da geht es mittendurch. Der Bauer ist auch sonntags am Arbeiten und beachtet mich nicht wirklich. Ich grüße freundlich, aber mir ist etwas unwohl, und als ich das Bauernhaus hinter mir gelassen habe, bin ich doch froh. Da kann nicht mal das vor mir liegende Stück sehr matschiger Weg das Vorwärtsstreben behindern.
Ich lasse die Gedanken fließen, durch mich hindurch. Denke nicht wirklich etwas Bewegendes, halte die einzelnen Bilder nicht fest. Einfach den Weg, die Natur wirken lassen. Bei Aillac verliere ich kurz den Jakobsweg, stelle aber schnell fest, dank Karte, dass das nicht schlimm ist. Nachdem ich ein Stück eine völlig einsame kleine Straße durch einen frisch nach Tannennadeln duftenden Wald laufe, treffe ich etwas später auf die D67 und den Wanderweg. Ein kleiner Felsen direkt an der Kreuzung lädt zu einer kurzen Pause ein, und weil ich schon wieder hungrig bin, stärke ich mich mit einem Käsebrot. So bin ich fit für die letzten Kilometer bis La Coquille.
Dort angekommen mache ich bei der Kirche Halt. Erst mal nach drinnen, etwas ruhen, ankommen und danke sagen für den guten Weg hierher und die Bitte um ein Dach über dem Kopf für die Nacht. Ebendies zu suchen mache ich mich dann auf. Ich finde das Refuge und bin nicht wirklich begeistert. Fast eine Art Halle, etwas alt und nicht sehr einladend. Aber was soll’s. Für eine Nacht geht alles. Auf einem Schild lese ich, dass die Herberge erst um 16.00 Uhr aufmacht. Wahrscheinlich, weil diese von freiwilligen Helfern betreut wird und die an einem Sonntagnachmittag auch etwas Besseres zu tun haben. Ich kann das nachvollziehen. Aber jetzt ist es gerade mal zwei Uhr! Zwei Stunden im Dorf herumhängen? Und das an einem Sonntag, wenn alles zu ist? Die Aussicht ist nicht sehr motivierend. Soll ich weiterlaufen? Aber dazu habe ich auch nicht wirklich Lust, immerhin habe ich heute doch schon gut 30 Kilometer hinter mir. Mir fällt ein, ich habe in der Herberge gestern Abend ein Schild für einen privaten Gȋte mit dem klangvollen Namen Maison Morain gesehen und mir die Telefonnummer herausgeschrieben. Das ist doch eine Option.
Der Bahnhof ist hier gleich ums Eck und davor eine Telefonzelle. Ja, sie hätten offen, 25 Euro inklusive Frühstück. Das ist es mir wert und ich sage, ich komme gleich, nachdem ich mir den Weg habe beschreiben lassen. Ich muss vorhin direkt daran vorbeigelaufen sein, als ich in die Stadt kam. Einladend habe ich es jetzt im Blick. Aber es gibt keine Klingel, also klopfe ich. Als ich eintrete, werde ich sofort sehr nett begrüßt. „Hallo, mein ist Name Greg. Und dies ist meine Frau Heidi.“ Ich: „Das ist ja ein deutscher Name!“ Bis jetzt sprechen wir Französisch. Sie sagt: „Wir sind Amerikaner.“ Erstaunt rufe ich aus: „No way!“ Ich erzähle ihnen, dass ich in Texas lebe! Inzwischen haben wir zu Englisch gewechselt. Ob ich erst mal einen Tee will, fragt Heidi, was ich gerne und dankend annehme. Während ich den trinke, unterhalten wir uns ein bisschen über dies und jenes.
Etwas später sagt Heidi, sie zeigt mir jetzt erst mal das Zimmer, damit ich meine Sachen ablegen kann. Und sie fragt, ob ich Abendessen will, es würde aber normalerweise extra kosten. Erst lehne ich ab, aber nachdem Greg sagt, es gibt TexMex kalifornische Art, sie sind Kalifornier, kann ich nicht widerstehen. Es riecht auch schon sehr verführerisch im ganzen Haus. Mit der Familie essen und ein bisschen reden und finde ich dann doch sehr einladend. Und das werde ich letztlich auch, eingeladen, denn wir sind ja irgendwie doch verbunden. Sehr nett. Heidi meint noch, ich kann auch ihren Computer benutzen, was ich gerne in Anspruch nehme. Später stehe ich in der Küche ein bisschen im Weg, während Heidi und Greg kochen, und wir unterhalten uns. Heidi und Greg sind, wie Helmut und ich, von „zu Hause“ weg. Sie haben in verschiedenen Orten in USA gelebt, aber wollten einfach was anderes ausprobieren. So haben sie, als ein entsprechendes Jobangebot für Heidi kam (sie ist Lehrerin), alles verkauft und sind zunächst nach Berlin, dann nach Frankreich. Haben hier dieses Haus gekauft, das 25 Jahre unbewohnt war, und es renoviert. Wenn man in La Coquille wohnt (deutsch: die Muschel) und das Haus an der Place St.-Jacques-de-Compostelle ist, bleibt einem wohl nicht viel anderes übrig, als einen Gȋte für Pilger einzurichten, sagt Heidi lachend. Das liegt nahe, da der Jakobsweg direkt am Haus vorbeiführt. So ist dann auf jeden Fall nicht nur die Sprache ein Anknüpfungspunkt, sondern auch eine ähnliche Lebenseinstellung. Etwas zu wagen für seine Träume und auch mal ins kalte Wasser springen.
Sie wissen natürlich auch allerlei Geschichten von Pilgern zu erzählen, die hier schon durchgekommen sind. Von denen berichten sie mir dann beim Abendessen. Wir sitzen mit Parker, dem zehnjährigen Sohn des Hauses, und einem Freund von ihm am Esszimmertisch. Ich finde es sehr gemütlich. Vorneweg Gemüsesuppe, dann Tacoshells mit Bohnen, Mais, Hühnchen, Salsa, alles selber zusammenzustellen. Greg meint, sein Bruder hat ihm gerade ein Carepaket mit dem entsprechenden Gewürz geschickt. Tacos füllen und mit den Händen essen. Dazu Reis. Ich finde, es schmeckt sehr mexikanisch und sehr lecker, und esse fast schon unverschämt viel, gleichwohl es meine Gastgeber freut, dass ich kräftig zulange. So langsam habe ich wohl wirklich den berüchtigten Pilgerhunger. Hinterher noch Espresso und Zuckerkekse. Köstlich. Noch ein bisschen reden, und bis ich mich dann in mein Zimmer zurückziehe, ist es schon fast zehn Uhr.
Und ich bin noch nicht einmal wirklich müde, eher etwas aufgedreht. Ärgere mich ein wenig, dass ich keine Fotos gemacht habe. Und tröste mich damit, dass ein Bild die tolle Stimmung des Abends so oder so nicht hätte einfangen können. Nachdem ich noch eine Gartenzeitschrift durchgeblättert habe, die auf dem Nachttisch liegt, mache ich das Licht aus und vom Vollmond beschienen schlafe ich irgendwann ein.



©Wiebke Beyer, aus ihrem Buch "Manchmal muss man einfach weiterlaufen"

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