… nun eine lange Reise im physischen Sinn ist zwar gerade
nicht in Planung, aber ich freue mich schon sehr darauf,
am Freitag 27.11.15,
18:00 Uhr
immerhin virtuell auf die Reise zu gehen. Dies bei meiner
Lesung in dem etwas ungewöhnlichen Ambiente des Naturgut Biomarktes in
Echterdingen (Bernhäuser Straße).
Foto: auf der Via
Lemovicensis zwischen Carvelle und St. Astier … an dem Tag begegnete mir ein Wegengel …
Aus meinem Buch „Manchmal muss
man einfach weiterlaufen“:
St. Astier. 24.3.2011.
Der Weg hierher war zweigeteilt. Fing aber erst mal mit einer Überraschung
beim Frühstück an. Ja, ich habe gestern fast schon gewünscht, dass noch
irgendein anderer Pilger kommt, um mich ein wenig auszutauschen. Aber dass ich
nun am frühen Morgen ausgerechnet Philippe, den „Schwätzer“ von Crozant,
antreffen muss? Ich setze mich aber trotzdem zu ihm an den Tisch und wir
unterhalten uns ein wenig. Er schwatzt mich dann gleich etwas angeberisch voll
von wegen, wie viele Kilometer er pro Tag läuft, Strecken von 40/45 Kilometern,
was sicher zutrifft. Ich habe ja mit der Zugfahrt nach Limoges etwas abgekürzt
und er ist jetzt auch schon hier. Und er lässt sich darüber aus, was man
unterwegs alles braucht und nicht braucht. Ich verkneife mir dann einfach eine
Bemerkung über die Vorzüge eines guten Buches, um abends noch ein wenig zu
lesen. Doch alles in allem ist die Unterhaltung ganz in Ordnung und später
unterwegs denke ich darüber nach, was ich von ihm lernen kann. Denn in manchen
Dingen hat er ja durchaus recht.
Philippe ist
vor mir fertig und verabschiedet sich. Ich packe meine restlichen Sachen und
bezahle meine Rechnung. Dabei stelle ich fest, dass meine Kreditkarte hier
nicht funktioniert, da ich dafür keine PIN habe, was mich ärgert. So muss ich
nämlich einen großen Teil meines Bargeldes nehmen, mit der Folge, dass dies
sich bedrohlich dem Ende entgegenneigt. Helmut erklärt mir später, dass wir aus
diversen Gründen gar keine PIN haben. Wäre schön zu wissen gewesen.
Gegen halb neun
ziehe ich los. Erst mal geht es natürlich ein ziemliches Stück durch Périgueux
und Vororte. Aber rechtzeitig, bevor der Morgenkaffee durchgelaufen ist, findet
sich ein Wäldchen. Bis zur alten Benediktinerabtei von Cancelade, heute ist
dort das Centre Spirituel Alain de Solminihac untergebracht, ist die
Strecke auch sehr gut ausgezeichnet.
Heute werden
mal wieder die Wadenmuskeln so richtig trainiert, denn es geht ziemlich viel
hoch und runter und ein paar Mal ist es richtig schwierig, den Weg zu finden.
An manchen Stellen rate ich mehr oder weniger unter Zuhilfenahme des Kompasses.
Was ich feststelle, immer wenn ich denke, jetzt bin ich komplett falsch, voilà
ein Wegweiser oder Zeichen, dass ich noch auf der Via Lemovicensis bin. Dies
lässt mich jedes Mal einen Dank gen Himmel schicken. Ich glaube, ich habe
inzwischen ein gewisses Gefühl für den Weg. Das heißt, ich habe das Gefühl, ich
werde geleitet, und das nicht nur per Wegweiser.
Dies Gefühl
verlässt mich dann allerdings kurzfristig. An einer Stelle, ich bin ungefähr
seit einer Stunde durch einen Wald gelaufen, stehe ich vor einer Kreuzung. Ein
Weg geht leicht rechts ebenerdig und einer leicht links ansteigend. Und es gibt
keine Zeichen, welcher der Wege nun der richtige ist. Ich konsultiere
Wanderführer und Karte, Kompass und Beschreibungen, aber auch die helfen nicht.
Was tun? Ich beschließe den linken Weg zu nehmen, doch nach ein paar Metern
werde ich unsicher und drehe um, weil es mir nicht richtig vorkommt. So stehe
ich dann wieder an der Kreuzung und schaue den rechten Weg an. Kann mich aber
nicht so wirklich entschließen, den zu nehmen, da es ziemlich steil bergauf
geht und ich nicht dort hochschnaufen will, nur um festzustellen, ich bin
falsch. In Gedanken versunken warte ich auf eine Eingebung. Die kommt,
allerdings anders als erwartet. Denn plötzlich taucht wie aus dem Nichts ein
Mann auf. Da er von schräg hinter mir kommt, erschrecke ich fürchterlich, als
er „Bonjour madame“ sagt. Beinahe stolpere ich über meine eigenen Füße, als ich
mich zu schnell umdrehe und nun meinerseits „Bonjour!“ stottere. Ich sehe, dass
er grüne Waldarbeiterkleidung anhat. Aus seinem etwas dreckigen Gesicht schauen
mir ebenso grüne Augen entgegen. In einer Hand hält er seinen Schutzhelm und in
der anderen eine Kettensäge. Letztere sieht zwar ein wenig bedrohlich aus, aber
er hat ein recht freundliches Gesicht und lächelt. „Entschuldigen Sie, wenn ich
Sie erschreckt habe. Sind Sie ein Pilger?“, fragt er mich, natürlich in
Französisch. „Ja“, antworte ich knapp und immer noch zögerlich. Ich will ihm im
ersten Moment nicht unbedingt sagen, dass ich den Weg verloren habe. Aber er
scheint es zu ahnen. „Haben Sie sich verlaufen?“, ist dann auch seine
mitfühlend klingende Frage. Wieder kann ich nur nicken und ein „Ja“
herausbringen. Mein Gehirn scheint irgendwie kurzfristig gelähmt. Ihm kommt das
wohl seltsam vor, dass ich immer nur „Oui“ stammele, und so ist seine nächste
Frage: „Sprechen Sie Französisch?“ Allmählich taut meine Zunge auf und ich
schaffe es zwei ganze Sätze zu formulieren: „Ja, ich spreche Französisch.
Entschuldigen Sie, aber ich habe mich sehr erschrocken.“ – „Das tut mir leid,
ich bin es gewohnt mich im Wald leise fortzubewegen.“ – „Sie kennen sich hier
aus?“ So langsam finde ich auch den Rest meiner Sprache wieder. „Ja, der
Jakobsweg geht dort entlang.“ Er deutet auf den rechten, ansteigenden Weg. „Danke,
ich kann hier leider keine Wegweiser sehen. Gut, dass Sie gerade vorbeigekommen
sind.“ Er lacht leise und meint: „Komisch, eigentlich wollte ich heute in einem
anderen Teil des Waldes arbeiten, entschloss mich aber kurzfristig hierher zu
kommen. Nun, alles Gute und bon courage!“ Sprach's, dreht sich um und
verschwindet auf dem linken Weg. Ich rufe ihm noch ein „Merci beaucoup“
hinterher und mache mich dann auf, weiterzulaufen. Keine 300 Meter weiter finde
ich dann einen der gelb-blauen Pfeile, die die Amis de St. Jacques hier
aufgehängt haben. Ich schicke dem Waldarbeiter noch mal einen stillen Dank nach.
Fast schäme ich mich für den Gedanken, aber irgendwie schien er mir wie ein
Wegengel.
In Carvelle
mache ich dann erst mal eine Pause, sitze für eine ganze Weile auf einer Bank,
esse mein Brot und freue mich über herrlichstes Wetter. Der Weg führt dann
wunderschön an einem Kanal entlang. Es macht richtig Spaß und ich komme gut
voran. Ich singe lauthals „Je marche seul“ von Jean-Jacques Goldman. Und ich
hoffe, mich hört keiner, denn ich kenne nur den halben Text und dichte mir den
Rest dazu. Noch motivierter bin ich, als ich ein Schild erblicke:
St.-Jacques-de-Compostelle 1107 km. Ein Klacks!
Die letzten
drei Kilometer sind dann allerdings nicht mehr ganz so toll, denn sie führen an
der ziemlich stark befahrenen D3 entlang. Und es gibt keine
Ausweichmöglichkeit. Ich stelle bald fest, wieso: Linker Seite ist der Fluss
L’Isle und ein paar private Grundstücke. Auf der rechten Seite recken sich zum
einen ziemlich steile Felsen in die Luft und ich sehe mehrere Schilder, dass es
sich um eine Militärsperrzone handelt. Kurz vor St. Astier sehe ich dann auch
ein in den Felsen gehauenes Hauptquartier für irgendeine europäische
Militäreinheit. Nun, als Pazifist halte ich mich so weit davon entfernt wie
eben möglich und bin froh, als ich die Chambre d’hôtes erreiche.
Eine sehr
nette, etwas schüchterne junge hübsche Frau zeigt mir mein Zimmer. Alles in
hellem Goldgelb gehalten und sehr gemütlich. Die Toilette ist gleich nebendran,
obwohl ich kurz eine Horror-Vision meiner Nacht in Nancy habe. Doch hier
scheint es nicht so belebt. Das Bad gegenüber, eine Küche und ein
Aufenthaltsraum runden die gemütliche kleine Wohnung ab. Die Madame
entschuldigt sich für die Bauarbeiten draußen, das Haus wird von außen
renoviert, und erzählt mir, dass nur noch eines der anderen Zimmer vermietet
sei. Als sie gegangen ist, richte ich mich erst mal ein und ruhe ein wenig aus.
Später gehe ich
die Stadt erkunden. Vor allem statte ich auch der Kirche einen Besuch ab, zünde
eine Kerze an und bestaune die Statue, den Heiligen St. Astier. Ich nehme mir
vor, wenn ich wieder zu Hause bin, mal ein paar Recherchen zu all den Heiligen
zu machen, die ich in katholischen Kirchen sehe. Ich frage mich, wie viele es
wohl gibt? Und ob der Papst sie alle auswendig kennen muss?
Den Abend
beschließe ich dann mit einer heißen Dusche, einem Abendessen bestehend aus
Reis mit Käse und Salat und später ein bisschen Fernsehen. Wenn so alle Tage
sind, schaffe ich es doch locker bis ans Ende der Welt.
(aus „Manchmal muss man einfach
weiterlaufen“ von Wiebke B. Beyer)
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