... aber träumen darf man!

Die Hoffnung des ganzen Jahres – der Frühling. Die Hoffnung des Tages – der Morgen. (Aus Japan)

Es ist meine liebste Jahreszeit, definitiv, der Frühling. Wenn die Natur erwacht, erwache auch ich. Und zu sehen, wie Alles neu wird, sich neu entfaltet - wie passend ist das zu meiner momentanen Lebenssituation. Es liegt Hoffnung im Frühling, Hoffnung auf Licht und Heilung, Hoffnung auf Leichtigkeit ...

... und Wärme. Man gerät nicht gleich ins Schwitzen, oder doch? Naja, eigentlich erst, wenn man sich körperlich anstrengen muss. Ich gebe zu, dass ich mich in letzter Zeit, was sportliche Aktivitäten betrifft, nicht gerade mit Ruhm bekleckse. Ich beschränke diese auf lange Spaziergänge mit Clyde und Treppe steigen, denn immerhin wohne ich im dritten Stock.
Letzte Woche nun durfte ich eine Extra Trainingseinheit einlegen... und zwar in Form von verschärftem 'Treppentraining'. Endlich kamen meine Kartons aus USA. Geliefert von einer Spedition. Ich hatte ja heimlich gehofft, dass ich den Fahrer mit einem kleinen Scheinchen bestehen könnte, damit er mit hilft die Boxen (25 an der Zahl) nach oben zu tragen. Aber der junge Mann war wenig kooperativ und zog - sobald seine Paletten abgeladen und die Umzugskisten erstmal im Treppenhaus zwischen gelagert waren, wieder ab. Na dann, hiess es mal wieder selbst ist die Frau, den all die netten Nachbarmänner im Haus waren just an diesem Tag ausgeflogen.
Wären nun die Kisten nur mit gewöhnlichem Hausrat gefüllt, wäre es sicher nur halb so anstrengend gewesen, aber - als Leseratte die ich nun mal bin - besitze ich einen ansehnlichen Haufen Bücher. Gleichwohl ich bestimmt an die zweihundert davon in Livingston zurückgelassen hatte, waren immer noch dreiviertel meiner Boxen voll mit bedrucktem Papier. Also tief Luft holen und los. Die ganz schweren Kisten leerte ich schon unten zur Hälfte und so stieg ich in den nächsten 2 Stunden gut 40 - 50 mal die Treppe rauf und runter. Meine persönliche Meisterleistung des Tages!

Doch dann, endlich war alles hoch geschafft und voller Vorfreude packte ich aus. Es tut so gut endlich wieder von Büchern umgeben zu sein. Jetzt fühlt sich die neue Wohnung noch mehr nach mir an ...
Es ist ja noch gar nicht so lange her, dass ich die Kartons eingepackt habe, aber der Mensch vergisst schnell und so finde ich beim Auspacken lauter schöne, persönliche Dinge, von denen ich erst jetzt merke, dass ich sie vermisst hatte. Das ist wie Weihnachten. Ich bin gespannt, was noch alles auftaucht, denn ein paar der Boxen stehen - ob mangelndem Regalplatz noch im Eck und warten auf ihre Stunde.
Über eines freue ich mich beim Finden besonders - meine Wanderstiefel. Und es ist Frühling, mit Aussicht auf gutes Wetter - das passt. Ich will gleich mal ausprobieren, ob ich mit denen noch laufen kann.

Donnerstag, die Sonne scheint und für heute hatte ich mir vorgenommen eine kleine Wanderung zu machen. Vor das Vergnügen hat jemand die Arbeit gesetzt. Und so verbringe ich einen Teil des frühen Morgens (meine kreativste Zeit) am Laptop und arbeite an meinem Buch. Alles läuft prima und die Worte fliessen. Doch dann werde ich gestört, es klingelt. Clyde fängt an zu bellen und ich renne zur Tür. Ach nee, erstmal den Türöffner drücken, der intelligenterweise am anderen Ende des Ganges ist. Aus der Wohnung, ins Treppenhaus. Die Tür habe ich - wegen Clyde - angelehnt. Aber ich hatte vergessen, dass ich ob der frischen Luft heute morgen ein paar Fenster geöffnet hatte. Und als die Postbotin unten die Haustür aufmacht, macht es 'wumms' und meine Wohnungstür ist zu. Sch.....! Okay, don't panic, erstmal runter, die Post entgegennehmen. Dann, was tun? Ich hatte nicht mal Schuhe an! Einzige Möglichkeit, meine Eltern anrufen, die haben nämlich einen Ersatzschlüssel. Also klingelte ich bei Anita (die wohnt unter mir) und fragte ob ich mal telefonieren darf. Zum Glück war die noch nicht zur Arbeit gegangen. Meine Mutter brauchte ewig ans Telefon und ich befürchtet schon das Schlimmste. Aber endlich nimmt sie ab. Ich erklärte meine missliche Lage und sie meint: Tja, der Daddy ist gerade nicht da, der musste zum Arzt. Und ich sitze noch im Schlafanzug am Frühstückstisch. Da ich ja nun keine Wahl hatte, sagte ich, dann warte ich halt, bis einer von Euch kommen kann. Sie sollen dann einfach kurz bei Anita anrufen und Bescheid geben.
Netterweise hatte mir unser ehemaliger Nachbar aus Livingston ein Buch geschickt - der Grund warum die Post nicht in Briefkasten passte - und so habe ich mich oben auf den Treppenabsatz gesetzt und darin geblättert. Deswegen vor meiner Tür, weil Clyde ja in der Wohnung war und wie wild gebellt hat! Zwischendrin - zur Beruhigung für Clyde 'schsch' und für mich 'oohhmm' ...
Etwas später rief Martin (Anitas Freund) nach oben, das mein Dad unterwegs ist. Puh. Ich bin dann runter um auf ihn zu warten. Und wie ich da so auf Strümpfen im Hauseingang stehe, fällt mir siedendheiss ein, dass mein Schlüssel von drinnen steckt - oder nicht? Ich war mir total unsicher ... In dem Fall bräuchte ich wohl den Schlüsseldienst. Argh.
Mein Dad kam und mit dem Ersatzschlüssel bewaffnet bin ich dann wieder hoch (hatte meinem Vater gesagt, er solle vorsichtshalber noch warten) und schickte ein paar Stossgebete zum Himmel. Clyde immer noch am bellen ... Und dann der Moment der Wahrheit. Schlüssel rein, rumdrehen und - hallelujah - die Tür ging auf. Und das trotzdem von innen mein Schlüssel hing! Es hat auch Vorteile im Altbau zu wohnen!!

Mein Güte, und das Alles am frühen Vormittag. Nach so viel Aufregung war es aus mit Schreiben und kreativ sein. Ich erledige noch ein paar Kleinigkeiten, aber irgendwie lief es nicht mehr rund. So beschloss ich dann gegen Mittag, es ist genug. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel und dann hielt mich endgültig nichts mehr drinnen. Wanderstiefel anziehen, Wasser für den Hund einpacken und Clyde und ich zogen los.


Es ist einfach herrlich. Die 'schweren' Stiefel an den Füssen fühlen sich gut an, passen noch perfekt. Kein Drücken oder zwicken. Vergessen ist die Aufregung vom Morgen und ich bin ganz im hier und jetzt. Die Luft ist frisch und voller Blütenduft. An vielen Bäumen zeigen sich das erste Grün. Fast über Nacht ist die Natur aufgewacht und es scheint, dass sie nun versucht schnell die kalten Tage zu vergessen und nachzuholen, was Anfang des Monats (wegen der langanhaltenden Kälte) nicht möglich schien.
Ausser mir ist niemand unterwegs. Naja, wer hat schon wirklich mitten in der Woche, mitten am frühen Nachmittag Zeit. 
Während ich so durch den einsamen Wald laufe, fühle ich mich zurückversetzt in meine Pilgerreise - obwohl mein Rucksack heute wesentlich leichter ist. Genau zwei Jahre ist es her. Ich überlege, wo ich am 25. April war? Irgendwo in Spanien, zwischen Burgos und Léon. Sehnsucht nach dem Weg kommt auf. Einfach in den Tag hineinlaufen, nicht wissend was einen erwartet. Bei sich sein und sich nur um die ganz profanen Dinge des Lebens kümmern müssen: essen und trinken und einen Schlafplatz finden. Die Gedanken nur bei diesem einen Tag, weil was morgen kommt ist heute nicht wichtig. Gefühlte und gelebte Freiheit ...
Am liebsten wäre ich einfach immer weitergelaufen und überlege ernsthaft, was wäre wenn ... ich meine, ich habe keine Kleidung zum Wechseln oder gar einen Schlafsack dabei, aber ich habe doch alles was ich brauche: einen Ausweis - sogar den von Clyde hatte ich einstecken -, Geld bzw. EC-Karte, ein Handy. Einfach an der nächsten Ecke in die andere Richtung abbiegen - nach Süden zum Beispiel. Oder ich könnte durch Deutschland laufen (ich hatte mal ein Buch von jemandem gelesen, der von Tübingen bis an die Nordsee gewandert war, sehr spannend). Ich überlege, warum nicht? Ich bin frei, trage nur die Verantwortung für mich und den Hund. Meine zu zahlenden Rechnungen werden so oder so vom Konto abgebucht. Dem Arbeitsamt bin ich - drum die mir eh nichts zahlen - nicht verpflichtet. 
Okay, ich habe nächste Woche zwei Vorstellungsgespräche - na und? Die verpasse ich dann halt. Die Wohnung ist mehr oder weniger aufgeräumt, meine Eltern haben einen Schlüssel und können die Post versorgen, und trotz dem wir im Zeitalter des Smartphone leben, gibt es noch Internetcafés in denen ich meine Mails einsehen kann. Den geplanten Besuch bei meinen Freunden in der Schweiz kann ich verschieben. Und mehr steht eh nicht auf meinem Plan ...
Ich meine, was hält mich hier? Und sofort fällt mir ein Wort ein 'Vernunft'. Dieses eine 'hässliche' Wort, das dem Bachgefühl so oft im Wege steht. Ganz so frei, wie ich es mir wünsche bin ich wohl doch nicht.
Und seufzend und etwas wehmütig, mache ich mich dann doch auf den Weg nach Hause. Tröste mich mit dem Gedanken, meine nächste Pilgerreise kommt bestimmt. Ich weiss noch nicht wann, aber eines Tages werde ich wieder losziehen und zufuss einen weiteren Teil meiner äusseren und inneren Welt erobern.

Wieder zu Hause, gibt's erstmal etwas zu essen. Spazieren mach hungrig. Den Abend lassen wir dann mit einer Dusche für Clyde und einer Dusche für mich ausklingen. Ich klappere noch ein wenig auf meiner Schleppitastatur, aber so recht wird das nichts. In Gedanken bin ich immer noch ein bisschen auf dem Weg und träume davon doch noch einfach loszulaufen.
Der Junior legt sich völlig erschöpft an seinen Platz, schläft . Wovon er träumt, während er mit den Füssen wackelt, kann ich nur vermuten. Vielleicht auch davon, einfach loszurennen ...

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