Mir zu meinem 17. Trockengeburtstag
Von der Sonne lernen, zu wärmen
Vom Wind Anstöße zu geben
Von den Bäumen standhaft zu sein
Von den Blumen das Leuchten lernen
Von den Steinen das Bleiben.
Von den Büschen im Frühling Erneuerung lernen
Von den Blättern im Herbst das Fallenlassen
Vom Sturm die Leidenschaft lernen.
Vom Regen lernen, sich zu verströmen
Von der Erde mütterlich zu sein
Vom Mond sich zu verändern,
Von den Sternen lernen, einer von vielen zu sein
Von den Jahreszeiten lernen,
dass das Leben immer von neuem beginnt
„Leben lernen“, so heißt das Gedicht von Ute Latendorf. Vor
kurzem stolperte ich zufällig darüber. Mein erster Gedanke war: Ja, manche
Menschen müssen das tatsächlich, leben
lernen. Neu leben lernen. Zum Beispiel nach einer Krankheit, wenn man gelähmt
ist, am Körper oder in der Seele. Wenn einem das passiert, muss einer durch
tiefe Täler bevor er wieder leben, neu leben, anders leben kann. Da ist zuerst
der Schock, das Nichtwahrhabenwollen. Dann der Hader, die Wut, die
Verzweiflung. Und irgendwann, ganz langsam, oft unmerklich, das Annähern an die
veränderte Situation, das bestenfalls zum Annehmen wird, zum Akzeptieren. Das
ist dann der Punkt, an dem das Leben lernen wieder beginnt. Bis dahin ist es oft
ein langer, schwerer Weg. Ein Weg auf dem einem Menschen helfen können. Wenn
sie einfach da sind und mit aushalten, durchhalten helfen. Ein Weg auf dem auch
die Zeit wichtig ist, die tatsächlich Wunden heilen hilft. Und die Natur, mit
ihrer stillen Stabilität, mit ihrem schweigsamen Versprechen, dass das Leben
weiter geht….
Auch ich musste das Leben neu leben lernen, als ich
damals – vor 17 Jahren – die Entscheidung traf, mich meiner Sucht zu stellen.
Als ich so darüber nachdenke, erinnere ich mich an meine
Besuche bei AAs. Da mir meine Selbsthilfegruppe fehlte, habe ich in meiner Zeit
in USA hin wieder die Meetings der Anonymen Alkoholiker besucht. Diese liefen
etwas anders ab, als unsere Freundeskreistreffen hier in Deutschland. Aber das
war nicht wichtig. Wichtig war, unter Gleichgesinnten zu sein. Reden können
über Dinge, die Nicht-Betroffene nicht verstehen. Einfach immer mal wieder
daran erinnert zu werden, dass ich aufmerksam bleibe, auf mich achtgebe, das
ich dran bleibe, an meinem Leben.
An so genannten ‚birthday nights‘ – das sind die Trockengeburtstags-Tage
– war es üblich das ‚Geburtstagskind‘ zu fragen: Wie hast Du es geschafft
(trocken zu werden)?
Und nun überlege ich, wie habe ich es geschafft? Ich frage
mich: Wie schaffte ich es durch die dunkelsten Nächte, von denen keiner aus mir
wusste? Wie überlebte ich die tiefsten (Ab)Stürze und schwersten Fehler? Wie
schaffte ich es weiter zu leben, als ich nicht mal mehr sicher war in meinen
eigenen Körper zu gehören, meine Haut zu passen? Wie kam es, dass ich – gerade
bevor ich gänzlich in den Abgrund stürzte – doch anhielt und anfing
nachzudenken … umzukehren? Wie war es möglich mir selbst zu vergeben, für das
was ich getan habe?
„An erster Stelle steht die Entscheidung für das Leben und nicht gegen die
Sucht ...“
Ich gebe es zu, ein wenig wundere ich mich darüber und
eine Antwort zu finden ist nicht ganz leicht. Ich glaube auch nicht dass es da
ein Patentrezept gibt. Jeder muss für sich selbst einen Weg finden …
Bei mir hat es viel mit den Entscheidungen zu tun, ich
getroffen habe; die ich immer noch treffe, jeden Tag. Bei den AAs heißt es ‚One
Day at the time‘. Für mich ist damit gemeint, ich habe jeden Tag die
Möglichkeit, die Entscheidung zu treffen, nicht zu trinken. Jeden Tag die
Chance neu zu leben. Und es ist meine eigene Verantwortung - niemand kann mein
Leben für mich leben ... Für mich gilt in Vielem immer noch das Motto: ein Tag
nach dem Anderen – aber jeder Moment mit der Leidenschaft.
An dem Tag an dem ich beschloss mit dem Trinken
aufzuhören, war niemand da, der 'Halt' sagte. Ja vorher gab es diese Stimmen,
und davon nicht wenige. Aber erst als ich selbst einsah, dass der Alkohol
stärker ist, als ich kapitulierte, als ich den Entschluss fasste, etwas zu
ändern, konnte ich einen neuen Weg beschreiten.
Und heute, heute ist es immer noch so. Es gibt immer mehr
als eine Möglichkeit. Ich bin die, die entscheidet, welchen Weg ich gehe. Denn
ich bin es, die mit einer Entscheidung leben muss: Nein, leben darf.
Was auch immer ich auf meinem Weg getan – oder gelassen -
habe, war meine Entscheidung. Niemand hätte dies für mich tun können, wäre ich
nicht bereit bzw. damit einverstanden gewesen. Das ist eine Tatsache. Andere
haben Vorschläge gemacht, die ich mit der Zeit sogar gut fand, aber ich bin
die, die diese Straße gehen musste. Ich bin die einzige Person die
verantwortlich ist für mein Leben. Ich bin die, die mit den Konsequenzen leben
muss, die aus meinen Entscheidungen und aus meinem Tun entsteht. Und das ist
gut so!
Es gab Zeiten, da wäre es ein Leichteres gewesen, in die
Misere zurück zu kehren, aus der ich gekommen bin. Ja, ich hätte auch hier mit
den Konsequenzen leben müssen, all dem Leiden, den Schmerzen, nicht zu wissen
wo zum Teufel der nächste Drink herkommen soll, was ich diesmal dafür tun muss,
woher das Geld kommen soll, nicht wissend ob ich stark genug bin den nächsten
Tag zu erleben, schlafen wo ich gerade hinfalle, in was auch immer, ... ich
wäre diejenige die mit der Tatsache leben müsste, dass ich beim nächsten Mal
vielleicht nicht so viel Glück hätte aus dem Ganzen halbwegs heil heraus zu
kommen.
Wie kommt es, das ich an diesen Stellen nicht gefallen
bin, sondern die Entscheidung traf dem Leben, meinem Leben noch eine Chance zu
geben? Ich musste nicht, aber ich stand auf und fing nochmal von vorne an. Ich
glaube, weil ich tief in mir eine Lust zu Leben verspüre. Eine Entscheidung, eine
Kraft, die mir sagte: Ich bin immer noch jung genug, gesund genug und
intelligent genug ein glückliches Leben zu leben. Auch wenn ich weiß es ist
viel einfacher zu sagen, ich wollte dies oder jenes nicht und andere dafür
verantwortlich zu machen. Doch es ist
letztlich meine Entscheidung, mit der mein bewusstes Ich leben muss. Und ich
erkenne immer mehr, kein Mensch kann mich unglücklich machen, außer ich lasse
es zu.
Dennoch, bin ich natürlich nicht anders, als jeder Andere
und mein Herz ist manchmal voller Ängste und Zweifel. Es gehört zum Leben dazu,
auch mal ein Risiko einzugehen.
Und es heißt auch nicht, dass mein Leben frei von Sorgen
und Nöten ist. Herausforderungen habe ich genug, jeden Tag, immer wieder.
Kleine und große. Doch ich weiß heute, ich bin stark genug, mich ihnen zu
stellen. Ich muss nicht einfach alles hinnehmen und ich darf aufstehen, ich
darf mich wehren, ich darf meine Meinung sagen und darf auch gewinnen.
Zu meinem Trockengeburtstag schickte mir ein Freund eine
email mit folgendem Spruch:
Hänge nicht der Vergangenheit nach
Und verliere Dich nicht in der Zukunft
Die Vergangenheit ist vorbei
Und die Zukunft hat noch nicht begonnen
Leben ist hier und jetzt
Ja, Leben ist hier und jetzt und ich möchte keinen Moment
davon verpassen. Ich lebe bewusster, viel aufmerksamer, und genieße jede Minute
in einer nicht vorhersehbaren, vorstellbaren Weise. Wir wissen nie wie lange
unsere Lebensuhr noch läuft, wie lange unser Leben andauert. Darum ist das
Verzögern oder Verschieben von Dingen eine zweifelhafte Wahl. Was wir in die
Zukunft schieben, geht verloren. Zum Beispiel Liebe und Güte, die für morgen
versprochen ist, kann uns heute nicht warm halten.
Mit jedem neuen erreichten Jahr der Abstinenz, begreife
ich besser wie die Ereignisse des Lebens im Laufe eines Jahres mich berühren; dies
aber ohne mich umzuhauen oder gänzlich vom Weg abzubringen. Ich kann mich nicht
an jeder einzelnen Moment erinnern, wie ich es hinbekommen habe – oder noch
tue. Manchmal erscheint es mir wie Jahrzehnte, manchmal wie gestern, als ich
die Entscheidung getroffen habe, zu leben …
So ist ein Teil der Antwort auf die Frage: Wie hast du es
geschafft? dieses: Ich habe - nicht immer bewusst, aber dennoch kontinuierlich
- für mein Leben gekämpft, denn etwas in mir weiß, es ist es wert. Ich habe
gelernt; ich darf mich immer so lebendig fühlen wie im Augenblick und ich darf
es zeigen. Ich komme gut mit mir klar und gehe meinen Weg.
Manchmal träume ich davon ein bisschen mehr inneren
Frieden zu finden, denn noch ist es hin und wieder sehr unruhig in mir … Dann
möchte ich frei sein; frei von den Zwängen, die Andere - aber auch ich selbst -
mir auferlegen. Ich möchte keine Angst mehr haben, Angst vor meinen Gefühlen,
Angst verletzt zu werden, Angst zu leben. Ich möchte mich spüren können, mit
allen Sinnen. Ich möchte die Dunkelheit die manchmal in mir die Oberhand
gewinnt mit Licht füllen können. Ich möchte das Leben selbst lieben, auch wenn
es nicht immer nach meiner Vorstellung verläuft. Ich möchte stark genug sein,
Schwäche zu zeigen. Und ich möchte stark genug sein, Stärken zu zeigen. Ich
möchte geduldig mit mir und anderen sein, wenn die Ungeduld mich kraftlos
macht. Ich möchte den Mut haben zu mir zu stehen und dem was ich bin. Und ich möchte all meine Bedenken über Bord werfen
um den Augenblick zu leben … - So lerne ich weiter, immer wieder aufs Neue, neu
zu leben.
… und ich weiß, ich kann jeden Tag mit einem Lächeln
begrüßen, im Wissen, dass - egal was kommt - ich meinen Weg finden werde. Ich spüre,
dass auch morgen mein Leben wieder auf mich wartet …
Alles ist gut!
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