Von offiziellen Zeremonien und ganz inoffiziellem Pastis, Teil II


»Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.« (Antoine de Saint-Exupéry)

3.1.2016. Sonntag. Ich bin kurz vor meinem Wecker wach. Und da ich gestern keinen Alkohol getrunken habe auch recht fit. So schmecken mir dann etwas später auch das Frühstückscroissant und der Kaffee. Ein paar der Floriansjünger kommen heute Morgen etwas verkatert aus ihren Zimmern.
Andere wiederum sehen nur gerädert aus, behaupten dies läge am Schlafmangel, da der mit im Zimmer schlafende Kameraden sämtliche umliegenden Bäume mit einer überdimensionalen Motorsäge abgeholzt hätte … mit anderen Worten fast unerträgliches Schnarchen und selbst in die Ohren gestopftes Toilettenpapier hätte nicht geholfen. Vielleicht ein Pastis mehr?

Pünktlich um 8.30 Uhr werden wir abgeholt. Zwei MTWs und ein ‚Leitfahrzeug‘. Hier stelle ich fest, dass die Herren der Feuerwehr doch relativ geordnet sind. Wahrscheinlich, weil sie es gewohnt sind, bei einem Einsatz nicht lange zu überlegen und so klappt die Aufteilung auf die Fahrzeuge ohne großes Chaos. Das habe ich schon ganz anders erlebt.
Heute fahren wir aber zum Glück nicht zu einem Brand, sondern in Richtung der Metropole Lyon. Sie ist mit 496.343 Einwohnern in der Kernstadt nach Paris und Marseille die drittgrößte des Landes. Die gesamte Metropolregion Lyon, mit 2.188.759 Einwohnern, ist nach Paris und vor Marseille die zweitgrößte Frankreichs. Okay, die Zahlen kann sich eh keiner merken, es sei auch nur mal so zur Orientierung erwähnt, um sich die Dimensionen dieser Großstadt vorzustellen.

Unterwegs erklärt mir unser Fahrer Robert die Sehenswürdigkeiten, an denen wir vorbei fahren. Ich übersetzte es für die anderen, wobei wahrscheinlich nur Anton, der neben mir vorne sitzt viel mitbekommt. Hoffe er ist davon nicht allzu genervt.
Der Vorteil von ‚Einsatzfahrzeugen‘ ist, dass man es mit dem korrekten Parken nicht so ganz genau nehmen muss – also auch nicht lange nach einem ganz korrekten Platz suchen muss. Heute tut es eine große Bushaltestelle …

Erstes Ziel ist die Basilika ‚Notre-Dame de Fourvière‘. Diese thront oben auf einem Fourvière-Hügel oberhalb der Stadt (fourvière von lat. forum vetus, „altes Forum“). Zu meinem Bedauern, aber sicher zur Freude aller anderen, laufen wir nicht, sondern fahren mit der Bahn. Auf dem Weg zum Gipfel des Fourvière-Hügels schiebt sich die Drahtseilbahn Meter um Meter vorwärts. Gérard erzählt mir, dass die "Funiculaires" (so der Name der Tram) schon seit 1860 den Lyonaisern den schweißtreibenden Aufstieg auf die Hügel ersparen. Früher zog das Gewicht der Talbahn die Gipfelbahn nach oben, heute haben die Bahnen
einen eigenen Antrieb.

Die Basilika selbst ist mit ihren vier Türmen schon von außen beeindrucken. Dies wird von der inneren Schönheit noch getoppt. Es ist kurz vor der sonntäglichen Messe, so haben wir nicht allzu viel Zeit für eine Besichtigung. Mich beeindrucken vor allem die vielen Mosaike. Unter der Kirche gibt es sozusagen nochmal eine Kirche in fast gleicher Größe (nur nicht ganz so hoch). 
Walter, der inzwischen zu uns gestoßen ist, erzählt ein wenig von der Geschichte dieses imposanten Gebäudes. Ich ‚stolpere‘ beim Rundgang gleich mal über den Heiligen Jakob. Die Via Gebennensis, der Jakobsweg von Genf nach Le Puy en Velay, führt durch Lyon. Wieder was gelernt.

Von der Terrasse neben der Basilika bietet sich uns eine grandiose Aussicht auf Lyon. Durch den gestrigen Regen ist die Luft sauber und klar und wir können bis hin zu den Alpen blicken. Sogar der Mont Blanc ist zu sehen, der majästetisch in der Ferne thront. Die Aussicht wird nur ein wenig durch das in etwa 60 km Entfernung liegende Atomkraftwerk gestört. Aber das ist eben Zivilisation. Schließlich wollen wir alle Licht und Wärme und irgendwoher muss die ja kommen…
Walter, unser Tourguide, lenkt uns weiter. Er ist Franzose – mit sehr deutschem Namen – seines Zeichens Geschichtslehrer in Lyon, kennt sich bestens aus. Mein Glück, er kann auch recht gut Deutsch und so muss ich nicht die ganze Zeit übersetzen, sondern kann selbst die Führung genießen. Und bekomme von Gérard auf Französisch noch einige Extraerklärungen.

Die Tour führt uns nun abwärts Richtung Stadt. Zunächst zu einem alten römischen Theater. Walter sucht zwei mutige Freiwillige – und keiner will sich melden. Hm, sollte mir das zu denken geben?
Freiwillige‘ werde vorgeschubst. Hm... Nun, letztlich möchte er nur demonstrieren, wie schon die Römer sich von einem Ende des Theaters zum anderen verständigt haben, durch eine Art ‚Röhre‘. Irgendwie erinnert mich das ein bisschen an ein Dosentelefon, ohne jedoch durch einen Bindfaden verbunden zu sein. Die Akustik ist allgemein faszinierend. Selbst wenn ganz unten nur ‚geflüstert‘ wird, ist es in den oberen Rängen zu hören …  Und die Treppenförmige Anordnung wird dann auch gleich für ein Gruppenbild genutzt. Anstatt ‚cheese‘ sagen alle ‚fromage‘, was sich ziemlich witzig anhört.

Weiter geht es über ein Stück alte Römerstraße und durch enge Gassen ziemlich steil den Berg runter in Richtung Altstadt. Die Jogger, die uns an diesem Sonntagvormittag laufenderweise den Berg rauf entgegenkommen beneiden wir nicht.

Ich erfahre, dass Lyon für sein Marionettentheater bekannt ist, das sich um die stadtgeschichtlich geprägte Figur des französischen Kaspers (Guignol) rankt. Diese Handpuppen wurden von einem Zahnarzt erfunden, der damit seine Patienten während der Behandlung ablenken wollte. Später wurden die ‚Aufführungen‘ für Kritik an Politik und Stadträten genutzt. In Schaufenster eines kleinen Theaters sehen wir, welche Berühmtheiten aus Lyon stammen; in Form von Puppen sehen wir u.a. Paul Bocuse, den Starkoch; ein Fußball- bzw. Sportfunktionär (da ich mich dafür überhaupt nicht interessiere, habe ich mir den Namen nicht gemerkt) und Antoine de Saint-Exupéry …

Unten angekommen wird erstmal der Ruf nach einem ‚Pitstop‘ laut. Schon kommen die ersten Frozeleien, ob schon wieder Pastis fließen wird. Aber nein, ein Kaffee und vor allem eine Toilette werden gebraucht. Ich, als Frau darin wohl besser geübt, gehe gleich als erste auf letzteres und muss somit nicht anstehen. Als alle wieder gestärkt sind, geht es weiter zu einem Rundgang durch die Altstadt.
Unter anderem durch die „Straße des ersten Films“. Die Straße befindet sich an der Stelle, an der die Brüder Lumière 1895 den vermutlich ersten Film der Welt gedreht haben. Heute kann man in dieser Straße ein Museum zur Geschichte des Films im ehemaligen Wohnhaus der Familie Lumière besichtigen.Und im Schaufenster unheimliche Gestalten ...

Wir kommen auch an einer weiteren Unglücksstelle der Stadt vorbei. Hier war im Jahr 1914 (ich leg mich da aber nicht hundert Prozent fest, da Zahlen nicht ganz mein Metier sind) ein Haus eingestürzt als ein Berghang abrutschte; man hatte ‘vergessen‘, dass die Römer den Berg mit Wasserleitungen ‚untertunnelt‘ hatten. Walter erzählt noch, dass damals ein Schweizer mit seinem Hund beim Suchen der Verschütteten helfen wollte, aber zu der Zeit lachte man ihn aus. Man hatte die wertvollen ‚Spürnasen‘ von Hunden noch nicht erkannt. Heute ist hier eine Gedenktafel mit den Namen der Opfer.
Was mich aber viel mehr beeindruckt, als diese lang zurück liegende Geschichte, ist ein viel aktuelleres Thema. Wir stehen auf dem großen Platz vor der Kathedrale, auf deren Stufen zwei Soldaten patrouillieren. Bisher hatten wir von den Auswirkungen der Pariser Attentate nichts bemerkt. Zwar hatte Walter uns erzählt, dass zurzeit Großveranstaltungen abgesagt werden, aber ansonsten … Hier nun stehen zwei Soldaten in voller Montur mit Maschinengewehren und bewachen den Eingang des großen Gebäudes. Später sehe ich vor anderen Kirchen auch Wachen stehen. Mich macht das nachdenklich: ob wir uns wohl nun überall an dieses Bild gewöhnen müssen? Bisher kannte man das eher nur aus dem Fernsehen und aus weit entfernten Ländern … Irgendwie traurig.

Beeindruckt bin ich auch von den ‚Durchgänge‘ (franz. Traboules). Dies sind besondere Passagen- oder Treppenhauskonstruktionen, die den Durchgang von einer Straße zur anderen ermöglichen, gegebenenfalls durch Innenhöfe und mitunter über verschiedene Ebenen. Unsere französischen Fremdenführer erklären, dass die traboules mehrfach eine wichtige Rolle für den Widerstand der Bürger Lyons spielten, als Versteck und Fluchtweg. So etwa beim Aufstand der Seidenweber sowie für die Résistance im Zweiten Weltkrieg. 
Man betritt diese durch eine unscheinbar wirkende Tür und kann dann bis zur nächsten Straße praktisch ungesehen gehen. Nur schwache Lampen durchdringen das Dunkel. Etwas düster muten sie an und ich kann mir gut vorstellen, wie diese früher von Widerstandkämpfern, aber auch Dieben und anderem zwielichtem Volk genutzt wurden. Schön, dass wir die Einheimischen dabei haben, denn als normaler Tourist würde man diese nur schwer finden.

Über eine Brücke gelangen wir auf die „Halbinsel“, der Stadtteil Lyons, der zwischen den Flüssen Rhône und Saône liegt (diese fließen in Lyon zusammen). Hier erwartet uns ein typischer Wochenmarkt auf denen Verkäufer und Erzeuger aus der Region ihre Produkte und sonnengereiften Früchte unter freiem Himmel anbieten. Gérard erzählt mir, dass hier schon seit dem 15. Jahrhundert nicht nur Gemüse und Käse aus der Region verkauft werden, sondern auch Blumen, Back- und Fleischwaren und vieles mehr. Ich werde von den Gerüchen überwältigt. In der Luft hängt das starke Aroma luftgetrockneter Würste und würziger Rohmilchkäse. Ein paar Schritte weiter sehe ich frische Früchte. Gérard sagt, zu dieser Jahreszeit kommen sie hauptsächlich aus Korsika. Beim Fischhändler riecht es nach Ozean und die Paella, die in der großen Pfanne brutzelt verströmt mediterranes Flair. Gleich gegenüber bietet ein Händler Gewürze aus aller Herren Länder feil… Bei diesen herrlichen Düften und beim Anblick all der Köstlichkeiten läuft Einigen von uns das Wasser im Mund zusammen. 
Olaf stehen Tränen in den Augen und wäre es nicht so laut, könnte man sicher seinen Magen grummeln hören. Nicht nur er würde am liebsten hier bleiben und probieren, sich einfach durch all die Leckereien durchfuttern. Aber die Zeit läuft und wir weiter.

Nun, zumindest sind wir nun so richtig hungrig, als wir zum Restaurant „le P’Tit Diabl’au Thym‘ fahren. Auch wieder so eines, das man normalerweise wahrscheinlich nicht finden würde. Urig mit Holzgebälk und niedrigen Räumen. Anmerkung von Andreas: solche dicken Holzbalken sind der beste Schutz vor dem Zusammensturz eines Gebäudes bei Brand. Ein Feuerwehrmann sieht so etwas eben gleich, wo ich eher unschuldig nur die Schönheit bewundere. Hier nun werden wir mit all den lokalen Spezialitäten verwöhnt, die wir vorhin schon auf dem Markt bewundert haben. Und natürlich Wein … und Pastis. Das Essen ist richtig gut, genießen wie die Franzosen. Da heißt langsam essen, Gang für Gang. Ich finde hier können sich manche Deutsche durchaus noch etwas abschauen.

Irgendwann sind alle satt und auch das letzte Stück Kuchen vertilgt. Es ist Zeit aufzubrechen. Mal sehen wie aufnahmefähig wir sind, wenn jetzt das ‚Suppenkoma‘ kommt. Denn es steht ein Besuch des Feuerwehrmuseum vom Lyon an.  Dieses wurde 1971 eröffnet, nachdem sich einige Feuerwehrmänner für den Erhalt von alten FW-Autos eingesetzt hatten. In Folge davon trugen sie nicht nur FW-Technik, sondern auch viele andere feuerwehrrelevante Dinge aus der ganzen Welt zusammen. Inzwischen ist dies zu einer beachtlichen Sammlung gewachsen und das momentane Gebäude platzt aus allen Nähten. 
Wir bekommen eine Führung der Direktorin persönlich. Sie erzählt von der Geschichte der
Entstehung der FW in Frankreich allgemein und Lyon im Speziellen. Und weiß auch die eine oder andere Anekdote zu berichten. Ich denke so für mich, dass Feuerwehrleute auch heute noch Mut brauchen, um ihre Arbeit zu tun. Aber immerhin haben sie doch viele technische Hilfsmittel, die diese erleichtern. Einem Brand nur mit einem leinenen Löscheimer gegenüber zu stehen erforderte doch noch einmal mehr Gottvertrauen ...
Es ist richtig interessant. Walter und ich übersetzen zusammen. Das funktioniert perfekt, aber ist auch anstrengend.
Nach gut einer Stunde lässt so langsam die Disziplin zu wünschen übrig, aber da sind wir dann auch durch. Jeder bekommt noch ein Erinnerungsgeschenk. Da finde ich richtig nett!

Auf dem Weg zurück ins Hotel sind alle ziemlich geschafft. Dort angekommen kläre ich für Patrick etwas an der Rezeption (nun dafür durfte ich ja mit) und besorge für uns ein paar Handtücher (die hatte die Putzfee vergessen). Und dann ein bisschen relaxen. Ich gönne mir einen Kaffee und eine Dusche. Dann ist es auch schon wieder an der Zeit, sich für den Abend ‚rauszuputzen‘.

Wir werden pünktlich zur Abendveranstaltung abgeholt. Es regnet in Strömen und ein kalter Wind weht. Oje, wenn das morgen auch so wird … In wenigen Minuten haben uns Aziz und Robert – zwei franz. Feuerwehrmänner – mit den MTWs zum örtlichen ‚Sale de Fete‘ (Festsaal des Ortes) gebracht. Hier werden wir schon erwartet. Wieder einmal hat sich die Stadt und der Verein der ‚Association Amitie‘ viel Mühe gegeben. Im Foyer gibt es zunächst einen Aperitif  - natürlich Pastis. 
Später werden wir dann an schön gedeckte Tische gebeten. Die Vorspeise steht schon bereit, ein Meeresfrüchtesalat. Schon wieder essen! Also hier brauchen wir wirklich keine Angst haben zu verhungern ... und die Gerichte sind immer sooo lecker - finde zumindest ich. Naja, ich bin etwas "exotischere" Mahlzeiten gewohnt. Bei manch' einem der Kameraden aus Deutschland treffen z.B. die Meeresfrüchte nicht unbedingt auf Gegenliebe ...
Bevor wir loslegen, gibt es erst noch Mal kurz ein bisschen Offizielles, Andreas verteilt ein paar der mitgebrachten Geschenke.
Dann beginnt das Abendprogramm. Die Musicalgruppe „Scène Génération“ (eine Gruppe von lokalen Gesangs- und Tanzkünstlern) tritt auf. Mit viel Spaß singen und tanzen sie, mal einzeln, mal in der Gruppe, zum mitklatschen und staunen. Klar, dass die hübschen Mädels gleich ihre Fans haben - das Publikum ist immerhin überwiegend männlich ...
Essen und Showeinlagen wechseln sich ab, so dauert das Ganze dann recht lange bis wir beim Dessert ankommen. Natürlich gibt es dazu auch Wein und Bier – und Wasser für mich.
Ein gelungener Abend. Einzig dass es ‚zieht‘ und ich in meinem ‚kleinen Schwarzen‘ ein wenig friere  (Pasits würde sicher helfen, aber den trinke ich ja nicht; bekomme aber einen heißen Kaffee).

Gegen 1 Uhr endet die Veranstaltung – zumindest die im Sale de Fete. Ein paar der Jungs feiern im Hotel weiter. Ich sitze noch ein bisschen am Computer und schreibe für den heutigen Tag ein paar Notizen auf. Bis ich dann letztlich ins Bett gehe, ist es auch nach zwei Uhr. Die schöne Musik vom Abend klingt mir noch im Ohr und schaukelt mich in den Schlaf ...

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